Dienstag, 7. November 2017

Die Revolution ist abgesagt

Wer nicht vor der Revolution gelebt hat, kennt nicht die Süße des Lebens (Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord)

PRIMA DELLA RIVOLUZIONE (VOR DER REVOLUTION)
Italien 1964
Regie: Bernardo Bertolucci
Darsteller: Adriana Asti (Gina), Francesco Barilli (Fabrizio), Morando Morandini (Cesare), Allen Midgette (Agostino), Cecrope Barilli (Puck), Amelia Bordi (Fabrizios Mutter), Domenico Alpi (Fabrizios Vater), Antonio Maghenzani (Antonio), Iole Lunardi (Großmutter), Cristina Pariset (Clelia), Gianni Amico (Fabrizios Freund im Kino)

Die Protagonisten - kein Traumpaar
Das Zitat von Talleyrand steht als Motto am Anfang von Bertoluccis zweitem Spielfilm und gab ihm den Titel. Als Pendant für die Vertreter des Ancien Régime, die vor der Französischen Revolution in Saus und Braus lebten, dient die Oberschicht von Parma, der Stadt, in der Bertolucci geboren wurde und in deren Umkreis er aufwuchs. Wir sind also in Parma, und es ist 1962, um Ostern herum. Fabrizio ist ein junger Mann aus gehobener Familie, und er ist Kommunist. Doch mit Arbeitern hat er eigentlich nichts zu tun, im ganzen Film hat er keinen einzigen politischen Kontakt zu einem Vertreter der Arbeiterschaft. Doch ein echter Intellektueller ist er auch nicht, dazu ist er zu wenig in sich gefestigt - man könnte auch weniger freundlich sagen, er ist zu unreif. Das hält ihn aber nicht davon ab, seinem innerlich zerrissenen Freund Agostino Belehrungen zu erteilen, die diesem wenig weiterhelfen. Immerhin gibt er ihm auch den Rat, sich im Kino RED RIVER anzusehen. Fabrizios Vater, sicher ein Konservativer (auch wenn er sich nie politisch äußert), nimmt die Ansichten seines Sohns nicht übermäßig ernst und lächelt milde darüber. Verstanden fühlt sich Fabrizio dagegen von seinem väterlichen Freund und Ratgeber Cesare, auch ein Kommunist und tatsächlich ein Intellektueller, und Grundschullehrer von Beruf.

So sieht es bei Fabrizio zuhause aus
Zwei Ereignisse stürzen Fabrizios Welt in Unordnung. Agostino ertrinkt in dem Fluss, der durch Parma fließt (und der genauso heißt wie die Stadt). Es ist ein zwar breiter, aber offenbar flacher und nur träge dahinfließender Fluss. Vielleicht ging Agostino freiwillig in den Tod, aber das bleibt in der Schwebe. Und dann kommt Fabrizios attraktive Tante Gina, die jüngere Schwester seiner Mutter, die seit vielen Jahren in Mailand lebt, für einen längeren Besuch nach Parma - der Grund dafür bleibt zunächst unklar. Fabrizio hatte sie zuletzt gesehen, als er noch ein Kind war. Fabrizio, sein jüngerer Bruder Antonio, seine Eltern und eine Großmutter leben alle zusammen mit Personal in einem sehr geräumigen Stadthaus in Parma, fast schon ein Palazzo, und Gina bezieht dort jetzt auch ein großes Zimmer. Gina und Fabrizio sind sich sympathisch, sie kommen sich näher, und es dauert nicht lange, dann schlafen sie miteinander. Das Thema Inzest, das in mehreren späteren Bertolucci-Filmen eine Rolle spielt, am intensivsten in LA LUNA, taucht hier wohl zum ersten Mal auf (ich kenne allerdings seinen ersten Film nicht). Als Fabrizio und Gina einmal abends in der Wohnung sehr eng umschlungen tanzen, räumt der Vater sehr schnell das Feld, um ins Bett zu gehen. Ahnt er, was da vor sich geht, oder übersteigt eine Beziehung zwischen seiner Schwägerin und seinem Sohn sein Fassungsvermögen? Man erfährt es nicht, und der Vater ist letztlich auch nur eine Randfigur.

Fabrizios Vater
Das Verhältnis von Gina und Fabrizio steht unter keinem guten Stern. Wegen der zu nahen Verwandtschaft natürlich und wegen des Zwangs zur Geheimhaltung, aber das ist nicht alles. Gina, die von vornherein einen unsteten Eindruck macht, erweist sich als psychisch labil. Sie leidet unter kaum motivierten Stimmungsschwankungen, und mehr als einmal ist sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Einmal ruft sie mitten in der Nacht ihren Arzt oder Psychiater in Mailand an. Es ist ein wirres Telefonat, gespickt mit Vorwürfen gegen den Doktor, und man erfährt daraus, dass er es war, der Gina zur Reise nach Parma geraten hat. Vielleicht erhoffte er sich davon einen positiven Einfluss auf Ginas Gemütslage, aber vielleicht wollte er auch nur eine Weile seine Ruhe vor ihr haben. Fabrizio wiederum fehlt die Reife, um angemessen mit Gina umzugehen. Vermutlich bemerkt er ihre Schwierigkeiten überhaupt nicht. Und als sich Gina einmal auf einen Quickie mit einem Zufallsbekannten einlässt und Fabrizio danach den beiden zufällig auf der Straße vor dem Gasthaus begegnet, das sie gerade verlassen, ist er überfordert und sucht mehr oder weniger sprachlos das Weite. Seine unerfüllten (und, wie er vielleicht ahnt, unerfüllbaren) Träume von der Revolution und sein Leiden an seinem Verhältnis zu Gina vermengen sich langsam zu einem allgemeinen Weltschmerz.

Hier ertrinkt Agostino
Die Beziehung von Gina und Fabrizio hat jetzt jedenfalls schon einen ernsthaften Riss. Der Graben vertieft sich noch auf einem Ausflug, den die beiden zusammen mit Cesare machen. In der Nähe von Stagno Lombardo, nicht weit vom Ufer des Po, besuchen sie einen älteren Feund von Gina, den sie "Puck" nennt. Der war einst ein wohlhabender Grundbesitzer, doch jetzt ist er hoch verschuldet, und er wird seine Ländereien, auf denen sie sich nun gerade befinden, bald an die Banken verlieren. Für ihn ist es eine Art Abschiedsbesuch auf seinem Land. Als er mit ein bisschen Selbstmitleid den anderen erklärt, dass er wegen seines einstigen Wohlstands nichts gelernt hat und somit auch keinen Beruf ausüben kann, macht ihm Fabrizio von der hohen Warte des linken Theoretikers aus Vorwürfe, dass er sich das früher hätte überlegen sollen. Und das nimmt nun Gina zum Anlass, Fabrizio heftig zu ohrfeigen. Den befällt jäh der Verdacht, dass Puck so etwas wie ein älteres Ebenbild von ihm selbst ist - in der Beziehung, dass man letztlich in eine Rolle hineingeboren wird, der man nicht entkommen kann, und dass er selbst somit am Ende der verachteten Bourgeoisie, der er entstammt, nicht entrinnen wird. Nach dieser Episode kehrt Gina nach Mailand zurück, und Cesare, nicht Fabrizio, trägt ihr den Koffer zum Bahnhof und verabschiedet sie.

Gina, Objekt der Begierde für Fabrizio - und für die Kamera
Mehr als drei Viertel des 112 Minuten langen Films (auf Blu-ray, laut IMDb sollen es 115 min sein) sind nun schon vorbei, und es gibt einen Zeitsprung von drei oder vier Monaten zum Ende des Sommers. Bei den Vorbereitungen zu einem jährlich stattfindenden "Fest der Einheit" der Kommunisten läuft Fabrizio im Dialog mit Cesare rein rhetorisch noch einmal zu großer revolutionärer Form auf. Er räsoniert darüber, dass dieses Fest nur ein Unterhaltungsspektakel sei, dass sich ein paar junge Genossinnen mehr für den Tod von Marilyn Monroe als für die Sache der Revolution interessieren, dass überhaupt die Arbeiter zu materialistisch seien und sich ausgerechnet an der Oberschicht orientieren. Cesare sieht das alles gelassener. Er findet es ganz in Ordnung und verständlich, dass die Arbeiterschaft nach Wohlstand strebt, statt am Umsturz zu arbeiten. Am Ende dieser Sequenz zitiert Fabrizio den letzten Absatz des Kommunistischen Manifests, und er kämpft dabei mit den Tränen. Es sind wohl keine Tränen der Ergriffenheit über den eigenen revolutionären Eifer, sondern eher Ausdruck eines ideologischen Trennungsschmerzes. Denn Fabrizio wird mit fliegenden Fahnen die Seiten wechseln.

Cesare
Die Worte des Kommunistischen Manifests sind kaum verklungen, da geht die Szene völlig unvermittelt in den 15-minütigen Schluss des Films über - und der ist große Oper. Es ist jetzt Dezember 1962, und die neue Spielzeit des Teatro Regio, des Opernhauses von Parma, wird eröffnet. Man gibt Verdi (was sonst?), und alles, was in Parma Rang und Namen (und das nötige Kleingeld) hat, hat sich in Schale geworfen, um der Premiere beizuwohnen. In den oberen (also billigen) Rängen ist sogar Cesare vertreten. In einer Loge sitzen dagegen Fabrizio (mit Smoking und Fliege) und seine Verlobte Clelia mit deren Mutter. Clelia ist jung, schön, blond und offenbar auch reich, denn eine eigene Loge in der Oper kann sich Hinz und Kunz nicht leisten. Da wird also auch eine monetär-dynastische Verbindung zweier Familien angebahnt. Tatsächlich wurde Clelia schon am Anfang des Films als Fabrizios Verlobte eingeführt, mit ein paar kurzen Aufnahmen ohne Dialog und in einem Voice-over von Fabrizio. Doch darin distanziert er sich von ihr, weil sie für ihn "die Stadt" symbolisiert, und damit meint er das Establishment und das süße Leben, das er ja hinter sich lassen will. Danach verschwindet Clelia so gründlich aus dem Film, dass man sie als Zuschauer längst vergessen hat.


Doch nun ist Clelia wieder da, und diesmal ist es Ernst mit der Verlobung - und damit sozusagen automatisch auch mit dem süßen Leben. Gina ist auch in der Oper, im Parkett neben ihrer Schwester, Fabrizios Mutter. Diese schwärmt von der bevorstehenden Hochzeit, und Gina fällt es schwer, sich nichts anmerken zu lassen - aber es darf ja niemand aus ihrer Familie von der vergangenen Affäre wissen. Mitten in der Vorstellung verlässt sie ihren Platz und trifft sich im leeren Foyer noch einmal mit Fabrizio. Doch es ist von vornherein klar, dass es sich nur um den endgültigen Abschied handelt. Fabrizio hat sich längst entschieden, gegen Gina und gegen die Revolution, für Clelia und für das Establishment, dem er nun selbst angehört. Dem er natürlich immer angehört hat, aber jetzt sträubt er sich nicht mehr dagegen. Während all dieser Minuten im Opernhaus sind im Hintergrund Arien aus Verdis "Macbeth" zu hören - große Oper eben.

Städtisches und ländliches Norditalien
Als kurzer Einschub und Kontrastprogramm ist Cesare zu sehen, der seinen kleinen Schülern in der Schule irgendwo am Stadtrand aus "Moby Dick" vorliest, dann ist der Film wieder bei Fabrizio und Clelia - jetzt findet mit großem Pomp die Hochzeit statt, und Gina als Familienmitglied ist mit dabei. Am Ende zerfließt sie in Tränen, und weil das Brautpaar inzwischen in einem Auto entschwunden ist, fungiert Fabrizios kleiner Bruder Antonio als Ersatzempfänger ihrer frenetischen Abschiedsküsse, und er weiß kaum, wie ihm geschieht. Vielleicht wird Gina bald wieder ihren Psychiater anrufen.

Agostino macht Kunststücke auf dem Fahrrad
PRIMA DELLA RIVOLUZIONE ist kein autobiografischer Schlüsselfilm, aber es steckt schon einiges von Bertolucci in Fabrizio. Auch Bertolucci ist bekanntlich so etwas wie ein bürgerlicher Marxist, der zu der Erkenntnis gekommen ist, dass die Revolution, wenn sie denn überhaupt mal kommt, vom Proletariat ausgehen muss, weil Salonkommunisten wie er selbst das nicht hinkriegen. Wenn man das weiterspinnt, dann kann man in Cesare Züge von Pasolini sehen, Bertoluccis 19 Jahre älteren Freund und Mentor. Auch Pasolini war ja Kommunist, und Bertolucci kannte ihn schon als Jugendlicher. Einerseits wurde er ideologisch von ihm beeinflusst, andererseits lernte er als Regieassistent bei ihm das Filmhandwerk. Stilistisch hat PRIMA DELLA RIVOLUZIONE allerdings wenig mit Pasolinis Filmen gemein. Eher gibt es Einflüsse von Godard, Bertoluccis anderem großen Idol, und allgemein der Nouvelle Vague. So gibt es in PRIMA DELLA RIVOLUZIONE etwa mehrfach Texteinblendungen, was Godard ja auch gelegentlich gemacht hat, und zur Halbzeit des Films leistet sich Bertolucci den Verfremdungseffekt, von Schwarzweiß kurz zu Farbe zu wechseln.

Links L'ECLISSE von Antonioni, rechts PRIMA DELLA RIVOLUZIONE
Es gibt auch Einflüsse von Antonioni zu vermelden, etwa Aufnahmen aus den oberen Stockwerken von Gebäuden im steilen Winkel auf die Straßen und Plätze der Stadt herab. Bertolucci zeigt das Sonnenland Italien auch ausgiebig in sehr schönen Aufnahmen im Nebel, was man bei Antonioni auch öfters findet, freilich auch bei anderen Regisseuren, etwa in Florestano Vancinis LA LUNGA NOTTE DEL '43 von 1960. Die Orte der Po-Ebene (bei Vancini ist es Ferrara) bieten sich dafür geradezu an. Aber Bertolucci übertreibt es nicht mit den Einflüssen, er sucht und findet seinen eigenen Stil. Um Fortschritte zu erzielen und um anderen etwas geben zu können, müsse man mit jenen kämpfen, die man am meisten liebe, sagte Bertolucci mal in Bezug auf Pasolini und Godard (zitiert nach Wikipedia), und Cesare sagt etwas ähnliches zu Gina, die sich wundert, dass er und Fabrizio trotz ihrer ideologischen Gemeinsamkeit oft unterschiedlicher Meinung sind.

Italien im Nebel, und ein Hauch Mizoguchi
Zu Bertoluccis sich entwickelndem Stil gehört in PRIMA DELLA RIVOLUZIONE eine sehr bewegliche Kamera. Schon ganz am Anfang, als der unglückliche Agostino auf einem Fahrrad akrobatische Kunststücke vollführt, wird er dabei von einer wild herumwirbelnden Kamera begleitet. Kameramann war der wenig bekannte Aldo Scavarda, der nur ein dünnes Œuvre vorzuweisen hat, aber darunter befindet sich u.a. Antonionis L'AVVENTURA. Vittorio Storaro, der ab STRATEGIA DEL RAGNO für ungefähr 15 Jahre Bertoluccis Stammkameramann wurde, war hier schon als Kameraassistent dabei. Mehrfach werden die beiden Protagonisten in den Straßen von Parma, inmitten von Passanten, von der Kamera regelrecht verfolgt, mal aus großer Nähe, mal aus der Entfernung mit Teleobjektiv. Gelegentlich drohen sie dabei in der Masse zu verschwinden. Vielleicht will Bertolucci damit sagen, dass all die anderen Leute auch ihre Geschichten haben, die genauso wichtig sind. Vielleicht will er auch gar nichts sagen, sondern nur eine vibrierende Stadt zeigen. Auf jeden Fall gerät PRIMA DELLA RIVOLUZIONE mit den vielen Straßenszenen auch zu einem Portrait von Parma, Bertoluccis Heimatstadt. Es ist ein zwar distanziertes, keinesfalls nostalgisches, aber kein unfaires, negatives Portrait. "Wenn man zurückkommt, ist es nicht mehr dasselbe", sagt die lange abwesende Gina einmal in Bezug auf Parma als ihre eigene Heimatstadt, "Orte und Menschen haben sich verändert." Der nach Rom abgewanderte Bertolucci sah das wohl auch so.

Auf den Straßen von Parma
Die vorzügliche Kameraarbeit und die schöne Musik, die im Wesentlichen von Ennio Morricone stammt (angereichert durch einige nicht von ihm stammende Schlager und durch Verdi), machen PRIMA DELLA RIVOLUZIONE zu einem sehr "filmischen" Film, der trotz seines sperrigen politischen Gehalts kaum je in die Nähe eines Thesenfilms gerät. Am ehesten vielleicht noch in einer Szene, in der es nicht um Politik, sondern um Film geht. Nach seiner unerquicklichen Begegnung mit Gina und ihrem Kurzzeit-Lover auf der Straße flüchtet sich Fabrizio regelrecht in ein Kino, und nach der Vorstellung (es gab EINE FRAU IST EINE FRAU von Godard) unterhält er sich in der Cafeteria mit einem Freund darüber. Das heißt, eigentlich redet nur der Freund, Fabrizio hört kaum zu, weil er zu sehr mit seiner Misere um Gina beschäftigt ist. Der namenlos bleibende Freund sondert einige filmtheoretische Weisheiten ab, es geht u.a. natürlich um Godard, sowohl direkt als auch indirekt (mit seiner damaligen Muse Anna Karina als Platzhalterin). In dieser Szene ist wohl nicht nur Fabrizio Bertoluccis alter ego, sondern in gewisser Weise auch der Freund. Gespielt wird er von Gianni Amico, der auch am Drehbuch von PRIMA DELLA RIVOLUZIONE beteiligt war und als Regieassistent für Bertolucci und Godard gearbeitet hat. Gut möglich, dass er sich seinen Text hier selbst auf den Leib geschrieben hat. Am Ende der Szene trägt aber nicht Godard den Sieg davon, wenn man das so nennen will, sondern ein anderer Regisseur. "Man kann nicht ohne Rossellini leben", sagt Amico gleich zweimal, und dann muss es ja stimmen.


Francesco Barilli feierte sein Debüt als Schauspieler 1963 in einem Film von Antonio Pietrangeli, und Fabrizio war dann seine zweite Rolle. Er macht seine Sache durchaus gut, aber nach einem Kurzfilm von 1966 ließ er die Schauspielerei erst mal sein und verlegte sich auf das Schreiben von Drehbüchern (u.a. an Umberto Lenzis MONDO CANNIBALE beteiligt) und auf die Regie (u.a. die Gialli IL PROFUMO DELLA SIGNORA IN NERO und PENSIONE PAURA). Ab den 90er Jahren war Barilli auch wieder als Schauspieler tätig, vorwiegend im Fernsehen. Er macht sich in PRIMA DELLA RIVOLUZIONE also nicht schlecht, aber trotzdem wird er von Adriana Asti ziemlich an die Wand gespielt. Denn die ist einfach umwerfend und faszinierend in ihrer Rolle als die impulsive, sensible und nervös überspannte Gina. Asti war in den 60er Jahren einige Jahre lang mit Bertolucci verheiratet. Sie hatten sich wohl bei den Dreharbeiten zu Pasolinis ACCATONE kennengelernt, wo sie eine Rolle spielte und Bertolucci Regieassistent war. Die Hauptrolle in PRIMA DELLA RIVOLUZIONE hat sie aber keiner Vetternwirtschaft zu verdanken, sondern sie ist schlichtweg die Idealbesetzung. Wie um das zu unterstreichen, rückt ihr die Kamera oft sehr nah auf die Pelle - selten sieht man in einem Spielfilm so extreme Großaufnahmen. Ist PRIMA DELLA RIVOLUZIONE an sich schon eine sehr gelungene Talentprobe eines aufstrebenden, noch jungen Regisseurs (er war erst 23), so wird sie durch Astis Performance noch um eine Nuance veredelt.

Das Ende der Geschichte
PRIMA DELLA RIVOLUZIONE ist in England auf einer sehr erfreulichen Blu-ray/DVD-Kombi des BFI erschienen. Etliche andere Versionen auf DVD oder Blu-ray gibt es auch.

Sonntag, 15. Oktober 2017

Zwei von der Tankstelle und ein DIY-Oldtimer

Zwei BP-Filme von James Hill
GIUSEPPINA
UK 1959
Regie: James Hill
Darsteller: Antonia Scalari (Giuseppina), Giulio Marchetti (Giuseppe Rossi)


In einem verschlafenen süditalienischen Dorf, Ende der 1950er Jahre. Es ist gerade Rummel, und Giuseppina, die kleine Tochter des Tankwarts Giuseppe Rossi, möchte da natürlich hin. Doch stattdessen verdonnert Papa sie dazu, ihm an diesem Tag bei der Arbeit zu helfen. Ihren Einwand, dass es an der Tankstelle nichts zu tun gäbe, kann er nur belächeln: es kämen viele Leute und da sei vieles zu tun. Giuseppina langweilt sich zunächst tierisch. Doch dann kommen die ersten Menschen vorbei. Zunächst die Lastwagenfahrer, die mit dem großen LKW das Benzin liefern – und sich gleich von Signora Rossi einen Kaffee für unterwegs servieren lassen. Zwei Priester auf einem Moped fahren vorbei. Einer verliert seinen Hut, den Giuseppina sogleich aufhebt und ihm zurückgibt. Dann kommt richtig Leben in die Bude: ein amerikanisches Touristenpaar aus Florida fährt vor. Er fotografiert gleich alles, was ihm vor die Linse fällt: Giuseppina, dann Signora Rossi mit Bambino, dann die ganze Familie. So schnell sie vorgefahren sind, fahren die Amerikaner wieder weg (nachdem sie ein nettes Trinkgeld für Signore Rossi zurückgelassen haben).
Wir entfernen uns dann von der Tankstelle: einige Hunderte Meter weiter wird geheiratet. Nach Speis, Trank und Foto-Session fährt das Paar mit dem Auto weg – und bleibt kurz vor der Tankstelle mit einem Platten stehen. Die Frischvermählten schieben das Auto die letzten paar Meter zur Tankstelle. Die Braut beschmutzt sich dabei, merkt dann auch noch, dass die am Kühlergrill befestigten Blumen weg sind. Kurz: ihre Laune ist im Keller. Giuseppina hilft aus, indem sie im heimischen Garten einige Blumen pflückt und ihr schenkt. Signore Rossi berechnet nichts für das Befestigen des Ersatzreifens. Wieder guter Laune und glücklich kann das Paar weiter fahren.
Die nächsten Kunden (ein Paar mit einem Teenager-Jungen) kommen von einer ganz komischen Insel: GB steht auf ihrem Wagen. Während Signore Rossi den Motor inspiziert, werden ein Tisch ausgepackt, Picknickstühle angerichtet, Tee gekocht und serviert. Giuseppina kriegt auch ein Biscuit in die Hand gedrückt. Nachdem sie wieder losfahren, blickt das italienische Mädchen zunächst besorgt hinterher – doch dann fährt der Engländer wieder auf die rechte Seite der Straße.
Ruhe kehrt ein. Zeit zum Rasieren für Signore Rossi. Die harmonische Stille wird von einem Bauernwagen unterbrochen, dessen linkes Rad quietscht, aber der flinke Tankwart sorgt schnell für Abhilfe. Anschließend fährt ein Auto aus Venezuela vor: der Fahrer hat zwar noch einen Anzug an, aber er trägt ihn auf sehr legere Weise; sein Mitfahrer trägt ein rotes Hemd, Sonnenbrille und Strohhut und spielt Gitarre – Bohémiens bzw. Proto-Hippies aus Lateinamerika in Süditalien! Der Anzugträger steigt aus, um sich die Beine zu vertreten, und zu den Klängen seines Mitfahrers fordert er Giuseppina, zur Erheiterung aller Anwesenden, zu einem kleinen Tänzchen auf. Danach ruft Signora Rossi zum Essen. Kurz, bevor es reingeht, kommt der kleine Beppo vorbei und bittet Signore Rossi um Benzin für sein selbstgebautes Spielzeugauto. Als guter Tankwart kommt dieser der Bitte natürlich nach. Warum er Zeit für Beppo verschwendet? Auf die Frage seiner Tochter antwortet Signore Rossi, dass jeder einzelne Kunde wichtig sei! Jetzt aber zum Essen...

Giuseppe Rossi betreibt eine Tankstelle in einem kleinen italienischen Dörfchen.
Seine Tochter Giuseppina hilft bisweilen.
Die Kundschaft ist international: US-amerikanische und britische Touristen –
sowie venezolanische Bohémiens und natürlich Italiener aller Altersklassen.

Der knapp über 30 Minuten lange Kurzfilm GIUSEPPINA gewann 1960 den Oscar für den besten Kurzdokumentarfilm. Diese Einordnung ist einigermaßen befremdlich. Ganz offensichtlich ist der Film gespielt (von Profidarstellern wie auch von Laien), setzt sich zusammen aus kleinen Vignetten mit einer jeweils eigenen Dramaturgie, ist von A bis Z als leichter Unterhaltungsfilm gestaltet und verfügt über eine Poesie, die eher dem Fiktiven als dem Dokumentarischen zuzuordnen ist (ohne natürlich hiermit Dokumentarfilmen Poesie absprechen zu wollen).

Aus produktionstechnischer Sicht war GIUSEPPINA tatsächlich weder ein Dokumentarfilm, noch ein fiktiver Spielfilm – sondern Imagefilm für BP! Das britische Erdölunternehmen versuchte Ende der 1950er Jahre, in Italien Fuß zu fassen. Um Vertrauen zu säen, wollte sich BP nicht als multinationale, weit entfernte Korporation präsentieren, sondern als Unternehmen, das problemlos auch in das ländliche Italien passt. Freundlich und nahe an den Menschen: so sollte das Erdölunternehmen rüberkommen. GIUSEPPINA, produziert von BP, inszeniert von einem englischen Regisseur, aber komplett italienischsprachig, wurde tatsächlich in erster Linie für ein italienisches Publikum gedreht. Inwiefern die Besetzung des Tankwarts mit Giulio Marchetti dabei eine Rolle spielte, kann man nur mutmaßen: Marchetti, Sproß einer Künstlerfamilie von Operettensängern, Schauspielern und Theaterintendanten, war in den 1940er und 1950er Jahren (nebst einigen wenigen Kinorollen) ein beliebter Sänger und Darsteller in Variétés. Über die anderen Darsteller habe ich nichts gefunden. Antonia Scalari hat sowohl bei IMDb wie auch bei MUBI und auf der Website des BFI nur GIUSEPPINA als Credit: man kann also vermuten, dass sie Laiendarstellerin war.

„Funktioniert“ GIUSEPPINA als Imagekampagne für BP? In gewisser Weise absolut! Wer würde nach Sichtung dieses Films denn nicht gerne an einer BP-Tankstelle mit einem wunderbar liebenswürdigen Tankwart, seiner freundlichen, kaffeekredenzenden Ehefrau und einem netten, stets hilfsbereiten Mädel halten, um Benzin zu kaufen? Zugleich sprengt GIUSEPPINA eindeutig den Rahmen des Korporations-Werbefilmchens, denn man könnte umgekehrt auch fragen: bei so einem wunderbar liebenswürdigen Tankwart, seiner freundlichen, kaffeekredenzenden Ehefrau und diesem netten, stets hilfsbereiten Mädel – was spielt es da eigentlich für eine Rolle, dass es eine BP-Tankstelle ist?

Meiner Meinung nach überwiegen doch die Qualitäten als Spielfilm. GIUSEPPINA ist extrem schön fotografiert, in kräftigem, leuchtenden Technicolor, das wunderbar die Farben des sommerlichen Drehorts wiedergibt (gedreht wurde in der Nähe von Ravenna in der Emilia-Romagna). In seiner „Erzählung“ (wenn man es „Erzählung“ nennen will) ist er schlicht und dabei sehr effizient: abgesehen von einigen expositorischen Bildern des Rummels und wenigen erklärenden Dialogen am Anfang ist man gleich „mitten drin“. GIUSEPPINA ist zwar italienischsprachig, funktioniert aber aufgrund seines starken, visuellen Erzählstils über weite Strecken auch komplett ohne Dialoge. Wenige, präzise Bilder reichen aus, um ein kleines Universum an Gefühlen und Atmosphären zu schaffen. Man denke nur an den Moment, wo der englische Teenager (er dürfte wohl zwischen 16 und 18 Jahre alt sein) zwei etwa gleichaltrigen italienischen Mädchen, die die Straße entlang laufen, sehnsüchtig hinterher blickt, während die beiden sich über Teezeremonie etwas amüsieren – in wenigen Sekunden Stoff für einen ganzen eigenen Film. Sehr schön auch der Moment, wo das italienische Hochzeitspaar das Auto schiebt und ein kleiner Kameraschwenk zeigt, wie die Blumen des Kühlergrills sich Meter über Meter über die Straße verteilt haben – die Melancholie eines wirklich unglücklichen Augenblicks in nur einem Bild festgehalten. Wenn die Braut später auf den leeren Kühlergrill schaut und sich ärgert, kann man das umso besser nachvollziehen.

Verlorene Blumen – und wieder neu gewonnene Blumen
(oben links im Hintergrund: pazifistische Graffiti)

Dass GIUSEPPINA so „effizient“ fotografiert ist, soll nicht von dem ablenken, was er in erster Linie ist: ein unendlich entspannter und entspannender, sehr gemütlicher Film. Giuseppinas „Befürchtung“ am Anfang bewahrheitet sich: im Grunde „passiert“ tatsächlich nichts in diesem Film. Zumindest nichts Weltbewegendes. Ein Tankwart hat einen normalen Arbeitstag, seine Tochter hilft ein wenig dabei, ein paar Leute kommen vorbei, tanken, lassen ihr Auto reparieren. GIUSEPPINA spitzt die Situationen und die Figuren leicht zu, aber für Generisches reicht das nicht aus. Zunächst dachte ich: GIUSEPPINA ist ein bisschen wie italienischer Neorealismus mit britischen Augen. Ländliches Italien, einfache Leute, Alltagssituationen, teilweise Laiendarsteller... Die entspannte laissez-faire-Atmosphäre erinnert allerdings doch eher an Jean Renoir: im Speziellen an PARTIE DE CAMPAGNE wegen der sommerlich-ländlichen Atmosphäre (allerdings hier in Farbe und mit noch weniger Handlung), im Allgemeinen an Renoirs Bemühungen, seine Figuren zwischendurch komplett von Zwängen des Plots zu befreien. Das ist allerdings nur ein persönlicher Eindruck und der Versuch einer Annäherung.

Ein tiefenentspannter Film: mit Zeit zum Rasieren, zum Tanzen
und zum Rumsitzen – Signore Rossi ist trotzdem stets im Dienstmodus.

Im Dienst des Farbfernsehens – GIUSEPPINA als „trade test colour film“

Spielfilm, Dokumentarfilm, Werbefilm... GIUSEPPINA erlebte eine, wenn man so will, „vierte“ Karriere und wurde für eine Zeit lang tatsächlich zum „Gebrauchsfilm“ – nicht im Dienste von BP, sondern als „technischer Helfer“ des Farbfernsehens in Großbritannien! Die Einführung des Farbfernsehens war dort ein relativ langwieriger Prozess. Erste Versuche mit Farbsendungen begannen 1956, doch erst 1967 wurden im UK Farbfernsehgeräte verkauft: extrem teure Geräte, die zudem auch noch pannenanfällig waren und oft gewartet werden mussten. Die genaue Kalibrierung der Farben – heute ein paar Klicks – war damals schwierig. Um die Farbe an den Geräten richtig einzustellen, mussten Farbfilme bzw. Farbsendungen gezeigt werden, Farbkurzfilme, die Techniker als Grundlage bei der Arbeit nutzten konnten: sogenannte „trade test colour films“. Diese wurden auf BBC 2 über den ganzen Tag verteilt gezeigt und erfüllten zweierlei Zweck: erstens dienten sie als Testgrundlage für Techniker, zweitens waren sie das erste Anschauungsmaterial für Zuschauer mit Farbfernsehgeräten. Die BBC kaufte dafür das Senderecht für unzählige, meist dokumentarische Kurzfilme: von Filminstituten in Großbritannien, in Kanada und Neuseeland und von Industrieunternehmen. Das Filmarchiv der BP stellte der BBC ab 1967 etwas über 20 Titel zur Verfügung – darunter GIUSEPPINA, THE HOME-MADE CAR und (ebenfalls von James Hill) SKYHOOK. Die BBC sah die Ausstrahlung dieser Filme tatsächlich nur als Tests, doch es entwickelte sich um die „trade test colour films“ rasch ein regelrechter Kult. Besonders beliebt waren sie bei Kindern. Nach der Schule erst mal ein wenig fernsehen gehörte für Leute meiner Generation (die in den 1990er Jahren in die Schule gingen) dazu – da gab es aber schon „ausgewachsenes“ Fernsehen, mit vielen Sendern und einem vielfältigen Programm über den ganzen Tag verteilt. Britische Schulkinder der Jahrgänge frühe 1950er bis mittlere 1960er Jahre kamen hingegen nach Hause und sahen die „trade test colour films“. Damit war dann 1973 Schluss, weil in der Zwischenzeit die Technik in Sachen Farbfernsehen schon weiter fortgeschritten war und in diesem Jahr Testbilder eingeführt wurden, mit deren Hilfe Techniker (und möglicherweise schon die Nutzer selbst?) die Geräte einstellen konnten. Der Kult um die „trade test colour films“ war damit nicht vorbei: 1989 wurde der sogenannte Test Card Circle gegründet, der sich unter anderem dafür einsetzte, dass „trade test colour films“ im Fernsehen wiedergezeigt oder auf VHS (und später DVD und blu-ray) veröffentlicht werden.
GIUSEPPINA gehörte zu den am häufigsten gezeigten „trade test colour films“ und auch zu den beliebtesten. In knapp sechs Jahren wurde er fast 200 Mal im Fernsehen gezeigt, alleine 1969 50 Mal (also durchschnittlich etwa einmal die Woche). Am 24. August 1973, um 14.30 Uhr, wurde GIUSEPPINA das letzte Mal als Testfilm ausgestrahlt und war auch der letzte gesendete „trade test colour film“.


British New Wave, BP sowie Kinder- und Tierfilme – zum Regisseur James Hill

James Hill (*1919), Sproß einer Wollindustrie-Familie, begann seine Filmkarriere Mitte der 1930er Jahre als junger Assistent in der GPO Film Unit. Die Filmabteilung der Britischen Post war ein Zentrum der Dokumentarfilmbewegung um deren Direktor John Grierson, wo auch Len Lye und Norman McLaren ihre Karriere anfingen. Hill arbeitete hingegen für Paul Rotha. Nebenbei tourte Hill auch als Pianist (komponieren konnte er auch – so unter anderem den Soundtrack zu seinem eigenen Film LUNCH HOUR). Mit Beginn des Kriegs wurde er in die Luftwaffe eingezogen. Seine Filmkarriere war nicht vollständig unterbrochen, da er eine Stelle in der RAF Film Unit fand und Luftschlachten fotografierte. 1943 wurde er über Deutschland abgeschossen. Seine darauffolgende Gefangennahme, Inhaftierung, Flucht, Wiedergefangennahme und Internierung im Stalag Luft III soll angeblich die biografische Grundlage für die Figur des Lieutenant Colin Blythe (gespielt von Donald Pleasance) in THE GREAT ESCAPE gewesen sein. Nach dem Krieg wurde Hill Regisseur von Industriefilmen: unter anderem inszenierte er einen Dokumentarfilm für eine Papiermanufaktur (PAPER CHAIN) und einen Rekrutierungsfilm für das Queen‘s Nursing Institute (FRIEND OF THE FAMILY). 1949 drehte er seinen ersten komplett fiktionalen Film und ersten von vielen Kinderfilmen JOURNEY FOR JEREMY. 1952 begann seine Jahrzehnte lange Zusammenarbeit mit der in diesem Jahr gegründeten Children‘s Film Foundation, die Kinderfilme in britischen Kinos vertrieb. Als ehemaliger Pilot, der zugleich Filmemacher war, arbeitete er auch als Second Unit Director für Flugsequenzen in Lewis Gilberts REACH FOR THE SKY.
1955 begann James Hills Zusammenarbeit mit BP, die unter anderem THE NEW EXPLORERS, SKYHOOK und eben GIUSEPPINA und THE HOME-MADE CAR hervorbrachte. Den ersten BP-Film drehte Hill noch für die Produktionsgesellschaft World Wide Pictures – die folgenden BP-Filme (und nicht nur diese) produzierte er mit seiner eigenen Gesellschaft James Hill Productions. Im Laufe von knapp einem halben Jahrzehnt „entfernte“ er sich in den BP-Filmen zunehmend vom klassischen Unternehmensfilm und bewegte sich zu etwas Poetischerem.
THE KITCHEN (1961) war Hills erster Film für ein erwachsenes Publikum. Es folgten zwei Zusammenarbeiten mit dem Autor John Mortimer (der unter anderem die Bücher zu dem Horrorfilm THE INNOCENTS und Otto Premingers Thriller BUNNY LAKE IS MISSING verfasste): THE LUNCH HOUR, ein sehr erstaunlicher Film über die kurzweilige Affäre zwischen einem verheirateten Mann und seiner jüngeren Arbeitskollegin und THE DOCK BRIEF, mit Peter Sellers und Richard Attenborough. James Hill gehört nicht zu den ersten Namen, die man mit der British New Wave assoziiert und ist sowieso weniger berühmt als Lindsay Anderson und Tony Richardson. Durch sein LUNCH HOUR, mit seinem elliptischen Erzählstil, seinen verblüffenden Montagen, seinem fast postmodernen Spiel mit Figuren und Erzählebenen (es gibt eine sehr lange imaginäre „Rückblende“) weht aber auf jeden Fall der frische Wind einer neuen Welle.
Für das Kino drehte Hill in den 1960er Jahren noch weitere Kinderfilme, daneben diverse Genrefilme: ein Musical (EVERY DAY‘S A HOLIDAY), einen Sherlock-Holmes-Film, in dem der Detektiv Jack the Ripper jagt (A STUDY IN TERROR), den Abenteuerfilm CAPTAIN NEMO AND THE UNDERWATER CITY mit Robert Ryan als Captain Nemo sowie den französisch-italienisch-deutschen Agenten-Thriller HELL TO MACAO aka THE PEKING MEDALLION, der unter anderem von Artur Brauner produziert wurde. Brauner produzierte auch Hills Pferde-Kinderfilm BLACK BEAUTY. Ich kann mich düster daran erinnern, mal in meiner Kindheit einen tearjerker mit Pferd und einem Jungen gesehen zu haben – war es dieser?
Hill war dann auch für das Fernsehen tätig und inszenierte einige Episoden von THE SAINT mit Roger Moore, von THE AVENGERS (also „Mit Schirm, Charme und Melone“) sowie für mehrere Kinderserien. Mit James Hill Productions drehte Hill auch weiterhin gesponserte Dokumentarfilme: unter anderem über fleischfressende Pflanzen für Oxford Scientific Films oder einen Film für die WHO über Ursachen von und Maßnahmen zur Prävention von Blindheit. Mit 75 Jahren starb Hill 1994 in London.

Kinderfilme, Dokumentarfilme, Industriefilme, Filme am Rand der British New Wave, diverse Genrefilme, Serienepisoden – eine vielseitige Karriere also, die keinen wirklichen roten Faden erkennen lässt. Aber das muss ja nichts schlechtes sein.


THE HOME-MADE CAR
UK 1963
Regie: James Hill
Darsteller: Ronald Chudley (der junge Mann), Alice Bowes (seine Tante), Sandra Leo (das Nachbarsmädchen), Caroline Mortimer (die junge Frau), Anthony James (der junge Mann mit dem Sportwagen), Frank Siemann (der Garagenbesitzer)


Ein junger Mann sucht auf einem Schrottplatz und bei einer Garage verschiedene Teile zusammen, die erst einmal nur wie Gerümpel aussehen. Bald stellt sich heraus, dass er ein Auto, einen schönen Oldtimer, aus Einzelteilen selbst zusammenbauen möchte. Das tut er im Hinterhof seiner Tante, die ihm ihre Garage, Tee zur Stärkung und (ohne ihr Wissen) ihre Nähmaschine zur Verfügung stellt. Ein kleines Mädchen, das im Nachbarhaus wohnt, versucht den jungen Mann zunächst mit allen möglichen Mitteln zu stören: sie schießt mit ihrer Spielzeugpistole auf ihn, lässt, als er gerade kurz weg ist, einen vorbeiziehenden Altwarenhändler die Bauteile einsammeln. Mit einem kleinen Lächeln bricht der Mann schließlich ihren Widerstand, und sie beginnt ihm zu helfen. Neben der Tante und dem kleinen Mädchen gibt es noch eine weitere Frau: eine gleichaltrige Nachbarin (vielleicht die ältere Schwester der Kleinen?), in die der junge DIY-Autobauer wohl ein wenig verliebt ist. Sie selbst scheint nicht ganz uninteressiert zu sein, steigt aber lieber bei einem Nebenbuhler ins Auto, der über einen funktionierenden, luxuriösen Sportwagen verfügt. Egal... nach vielen Tagen Arbeit und tatkräftiger Unterstützung des kleinen Nachbarmädchens, eines gutmütigen Tankwarts der örtlichen Tankstelle (der Marke BP natürlich), der Tante (und, na ja, moralisch auch des Bernhardiners) ist das Auto zusammengebaut. Die Jungfernfahrt kann beginnen. Der junge Mann und der Bernhardiner fahren zuerst zur Tankstelle. Dort fährt auch der Sportwagenfahrer mit der jungen Frau vorbei, doch er guckt so lange ungläubig auf das selbstgebaute Auto, dass er einen Unfall baut – nichts Schlimmes, keine Verletzten, aber die junge Frau ist offensichtlich davon entnervt, auch von der Selbstgefälligkeit des Sportwagenfahrers. Kurzerhand steigt sie in den DIY-Oldtimer. Schnell wird noch das kleine Nachbarmädchen abgeholt und in den Kofferraum-Sitz gehoben – und alle vier fahren in dem selbstgebauten Auto auf‘s Land hinaus...

Aus Einzelteilen entsteht nach und nach ein richtiges Auto.
Unterstützung bekommt der junge Mann von seiner Tante, von einem freundlich gesinnten Tankwart,
nach einigen Scharmützeln auch von dem Nachbarsmädchen und von seinem Bernhardiner (na ja, moralische Unterstützung zumindest)

Der junge Autobauer hat Augen für die hübsche Nachbarin,
doch die steigt lieber beim arroganten Sportwagenfahrer ins Auto – vorerst...

GIUSEPPINA war ein bereits ein Film, der sehr visuell war, doch THE HOME-MADE CAR ist noch radikaler: er enthält während seiner ganzen 30 Minuten nämlich kein einziges gesprochenes Wort. Die ganze Geschichte wird ausschließlich audiovisuell erzählt, mit ausdrucksstarken Bildern, mit der Gestik und Mimik der Darsteller, mit der Montage und mit Musik und Toneffekten. Das wirklich Großartige ist, dass THE HOME-MADE CAR dabei keineswegs wie ein strenges formalistisches Experiment wirkt, sondern ebenso federleicht wie GIUSEPPINA dahinfließt.
Sicherlich mag der Einfluss des Stummfilms, also der rein visuellen Erzählung, eine gewisse Rolle gespielt haben, aber THE HOME-MADE CAR ist doch auch mehr. Der Film ist zwar komplett dialogfrei, doch Sound und Musik werden sehr minutiös eingesetzt. Der junge DIY-Autobauer wird von einem langsamen, gemütlichen und doch hartnäckigen Gitarrenmotiv begleitet, das perfekt die Eigenschaften des Protagonisten widerspiegelt. Der arrogante Sportwagenfahrer wird immer mit einem hektischen, unangenehm lauten und leicht kakophonischen Schlagzeugsolo eingeführt. Der Altwarenhändler, der mit einem Pferdekarren unterwegs ist, hat ein alternatives Motiv – sehr gemütlich wie das des jungen Autobauers, aber von einem mir unbekannten Perkussionsinstrument mit kleinen Schlägen punktiert (womit wohl das Pferd imitiert wird). Die Musik wurde von dem Australier Ron Grainer komponiert, der in Großbritannien vor allem für das Fernsehen tätig war und unter anderem für DOCTOR WHO das Thema komponiert hatte. Das musikalische Motiv des Altwarenhändlers ist eine Variation der Titelmusik von STEPTOE AND SON, einer 1962 gestarteten Sitcom.
Die pure visuelle, dialogfreie Erzählung in Kombination mit dem minutiösen Einsatz von Musik und Soundeffekten – das erinnert ein wenig an Jacques Tatis Filme. Aufgrund der kompletten Anwesenheit von Dialogen war THE HOME-MADE CAR gewissermaßen ein Joker für die BP, da absolut universell ohne Sprachbarrieren einsetzbar.

Das weitere „Schicksal“ von THE HOME-MADE CAR ist dem von GIUSEPPINA ähnlich. Er wurde für den Academy Award (in der Kategorie „Best Live Action Short Film“) nominiert, gewann ihn allerdings nicht. Ende der 1960er Jahre wurde er als „trade test colour film“ eingesetzt und fand so im Fernsehen zahlreiche Zuschauer und Fans.

... doch schließlich gewinnt der junge DIY-Oldtimer-Fan die Sympathie seiner Herzensdame
mit guten Manieren und altmodischem Charme.
GIUSEPPINA und THE HOME-MADE CAR sind beide als Extras auf der BFI-Edition des James-Hill-Films LUNCH HOUR erschienen – und zwar sowohl auf der Single-Disc-DVD-Edition wie auch auf der Dual-Format-Edition der „BFI-Flipside“-Reihe. Die „BFI-Flipside“-Edition hat ein Booklet mit jeweils einem Text zu LUNCH HOUR, zu James Hill im Allgemeinen, zu seinen BP-Filmen sowie einem Beitrag eines Mitglieds des Test Card Circles zum Thema „trade test colour films“ – diesen verdanke ich einige Informationen für diese Besprechung.
Mit auf der Disc befindet sich auch der BP-Dokumentarfilm SKYHOOK. Dieser 17-minütige Film hätte thematisch zwar in die Besprechung gepasst, aber ich finde ihn ehrlich gesagt nicht besonders spannend: es geht um den Bau eines Ölbohrturms auf Papua-Neuguinea – und wenngleich nicht undynamisch gefilmt und durchaus offen für ideologiekritische Betrachtungen, ist der Film doch eben recht trocken.

Wesentlich spannender ist der Hauptfilm LUNCH HOUR: ein übersehenes Kleinod der British New Wave, ein Film, den ich gerne hier bald besprechen würde.

Montag, 11. September 2017

Doktor Schizo und Mister Questi

Sieben Spätwerke von, mit und über Giulio Questi

Bis vor einiger Zeit hatte ich schon gelegentlich vom italienischen Regisseur Giulio Questi (1924-2014) gehört, aber ich wusste fast nichts über ihn und kannte keinen seiner Filme. Dann besprach zunächst Blogger-Kollege Funxton Questis zweiten Spielfilm LA MORTE HA FATTE L'UOVO und machte mich schon mal sehr neugierig. Als dann noch David in seinem Bericht vom 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms Questis dritten und letzten Spielfilm ARCANA in den höchsten Tönen lobte, wollte ich diesen Film unbedingt sehen (zu Recht, wie ich jetzt nach der Sichtung weiß). Als "Beifang" der Suche danach ging mir eine italienische Box mit zwei DVDs ins Netz, die unter dem Titel "by GIULIO QUESTI" sieben der letzten Filme Questis versammelt. Es handelt sich dabei um Kurzfilme, die Questi mit einer preiswerten Consumer-Digitalkamera von Canon ganz allein gedreht hat - er war einziger (in gewissem Sinn Selbst-)Darsteller (mit einer einzigen Ausnahme, siehe unten) und er führte gleichzeitig die Kamera und übernahm Beleuchtung, Ton, Schnitt und alle sonstigen technischen Aufgaben. Also eine ziemlich solipsistische Sache, und passend dazu erscheint am Anfang jeden Films der schlichte Schriftzug "La SOLIPSO FILM presenta". Und die Endcredits bestehen jedes Mal aus dem ebenso schlichten "by Giulio Questi", gefolgt von Monat und Jahr der Entstehung, und es werden noch die Komponisten der jeweils verwendeten Musik genannt (ohne die einzelnen Stücke zu benennen).

Giulio Questi in MYSTERIUM NOCTIS
Questi drehte die Filme von 2002 bis 2006, im Alter von 78 bis 82, in seiner eigenen Wohnung in Rom (wiederum mit einer Ausnahme). Ein Stefano Consiglio führte 2007 zum vorläufigen Abschluss des Zyklus ein 50-minütiges Videointerview mit Questi über seine Motivation und seine Vorgehensweise bei den Filmen, das unter dem Titel IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI ebenfalls in der DVD-Box enthalten ist. Aus diesem Film erfährt man, dass sich Questi von den äußerst beschränkten Produktionsbedingungen zu kreativen Lösungen für Probleme anregen ließ, die es mit mehr Personal (und Einsatz von Geld) gar nicht geben würde. So könnte man meinen, weil Questi sowohl Kameramann als auch einziger Darsteller ist, müsste es nur Szenen mit statisch montierter Kamera (oder allenfalls noch Szenen mit subjektiver Kamera) geben, aber das ist nicht der Fall. In einem der Filme geht etwa einer der Protagonisten (also Questi) einen Flur entlang, und die Kamera "schwebt" fast in Bodenhöhe vor ihm und filmt aus gleichbleibendem Abstand die gehenden Füße und Unterschenkel (dasselbe Motiv gibt es übrigens auch schon in ARCANA). Normalerweise würde hier die Kamera auf einem Dolly montiert sein, der von einem Techniker gezogen (oder gar computergesteuert bewegt) wird. Doch Questi legte die Kamera einfach nur auf einen Putzlappen, den er beim Gehen mit einem nicht im Bild sichtbaren Schrubber vor sich her schob. Klingt absurd, hat aber funktioniert. Dennoch war Questi durch seine Vorgehensweise auf die Bedingungen des ganz frühen Films zurückgeworfen (wie er in IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI sagte). Beim Drehplan gönnte sich Questi alle Freiheiten. Er stand auf, und wenn er Lust hatte zu drehen, dann drehte er, und sonst eben nicht - morgen ist auch noch ein Tag. Drehbücher gab es ohnehin nicht, Questi entschied alles spontan nach Laune und den Einfällen, die er hatte. Wie Questi im Interview sagte, war er bei den Filmen zwar Kameramann, Tontechniker, Beleuchter und Cutter, aber nicht Regisseur. Die Aufgabe eines Regisseurs besteht ja darin, anderen Leuten zu sagen, was sie tun sollen, und das erübrigte sich hier. So lehnte er im Gespräch mit Consiglio die Bezeichnung "Regisseur" für seine Funktion ausdrücklich ab, und in den Credits steht eben auch immer nur das summarische "by Giulio Questi". Er macht in IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI auch einige Bemerkungen über seine Kinofilme, aber das ist wenig ergiebig. Wer wissen will, was ihn damals, um 1970 herum, umtrieb, der muss sich nach anderen Quellen umsehen.

Questi mit seiner Digitalkamera (IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI)
Wie David in seinem Bericht vom Terza Visione schrieb, war Questi ein "cinéaste maudit des italienischen Kinos". Er wurde 1924 im lombardischen Bergamo geboren. Zunächst Journalist und Schriftsteller, war er ab den späten 40er Jahren beim Film, als Regieassistent und als Regisseur von Dokumentar- und Kurzfilmen. In der ersten Hälfte der 60er Jahre steuerte er Segmente zu drei Episodenfilmen bei, nämlich LE ITALIENE E L'AMORE (DIE ITALIENERIN UND DIE LIEBE), der gleich elf Episoden (und ebensoviele Regisseure) aufweist, dem dokumentarischen NUDI PER VIVERE (Regie gemeinsam mit Elio Petri und Giuliano Montaldo, wobei alle drei Regisseure zusammen unter einem Pseudonym firmierten) sowie AMORI PERICOLOSI (gemeinsam mit Carlo Lizzani und Alfredo Giannetti). NUDI PER VIVERE wurde aus mir nicht bekannten Gründen von der Zensur verboten. Dann schritt Questi zu seiner Solokarriere, doch die erbrachte nur drei Spielfilme. SE SEI VIVO SPARA (TÖTE, DJANGO) von 1967 ist einer der rabiatesten Italowestern, mit Ausflügen ins Surreale. LA MORTE HA FATTE L'UOVO (DIE FALLE, wörtlich "Der Tod hat ein Ei gelegt") von 1968 zelebriert groteske Kapitalismuskritik im Gewand eines Giallo (mehr darüber in Funxtons Artikel). Und schließlich 1972 der schwer fassbare ARCANA, der sich jeder Schublade entzieht. Alle drei Filme floppten an der Kasse, und ARCANA war sogar so erfolglos, dass der Verleih angeblich alle Kopien bis auf eine vernichtete. Questis Karriere als Kinoregisseur war damit vorbei. Nach einigen Jahren Pause, die er wohl hauptsächlich mit Schreiben verbrachte, kam Questi um 1980 beim italienischen Fernsehen unter. Er inszenierte mehrere Einzelfilme sowie zwei Krimi-Miniserien (die beide auch in Deutschland liefen). Diese zweite Karriere dauerte bis Mitte der 90er Jahre, dann war erst mal wieder Sendeschluss - bis Questi auf die Idee kam, sich eine Digitalkamera zu kaufen. Nach den sieben Filmen, die es auf die schon 2008 erschienene DVD-Box schafften, drehte Questi von 2009 bis 2011, nun schon im sehr fortgeschrittenen Alter, noch drei weitere Filme mit seiner Solipso Film als Produktionsfirma, also wohl im ähnlichen Stil und Produktionsmodus wie die hier besprochenen Filme. Doch bei einem dieser drei Filme wirken neben Questi immerhin auch noch eine ganze Reihe von weiteren Darstellern mit (wohl Laiendarsteller, denn die meisten weisen nur diesen einen Film auf). Daneben beteiligte sich Questi 2011 auch noch neben mehreren anderen Regisseuren an einer Doku eines Fernsehsenders mit irgendeinem geschichtlichen Thema. 2014 starb Questi mit 90 Jahren in Rom. Bis zuletzt war er auch schriftstellerisch aktiv.

Ein Dolly braucht keine Räder (IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI)
Obwohl die sieben Filme, die ich nun vorstellen werde, über die DVD-Box schon seit fast einem Jahrzehnt auch international leicht zugänglich sind (die Scheiben sind regionalcodefrei, englische Untertitel gibt es auch, und die Box kostet auch nicht viel), haben sie es merkwürdigerweise bis jetzt weder in die IMDb noch in die deutsche und englische Wikipedia geschafft. Selbst in der italienischen Wikipedia werden sie nur summarisch erwähnt, aber nicht mit Titel und Entstehungsjahr aufgelistet. Deshalb bin ich nicht sicher, ob die sieben Filme auf DVD und die danach entstandenen drei Filme (die es in die IMDb geschafft haben) wirklich alles sind, was Questi mit der Digitalkamera gedreht hat.



DOCTOR SCHIZO E MR. PHRENIC
2002
Musik: Carl Orff, W.A. Mozart
14:24 min

Mr. Phrenic und Dr. Schizo
Ein alter Mann (Giulio Questi) sitzt in seiner Wohnung an einem Tisch und liest in einem Band mit altgriechischer (ins Italienische übersetzter) Lyrik. Er liest nicht laut, aber man hört Questis Stimme aus dem Off mit den Gedichten - man lauscht sozusagen in seinem Kopf. Dazu Zwischenschnitte auf die Einrichtung der Wohnung, die fast wie Stilleben wirken (neben den üblichen Utensilien und Krimskrams, darunter ein gezeichnetes Portrait von Orson Welles und eine Kopie der Venus von Willendorf, vor allem viele Bücher), und in den Lyrik-Pausen hört man Musik von Mozart, danach Orffs "Carmina Burana". (Leider ist die Musik knisternd und verrauscht - Questi hat hier offenbar schon oft abgespielte Schallplatten benutzt, statt ein paar Euro in neue CDs zu investieren. Doch das bleibt eine Ausnahme, in den anderen Filmen ist der Ton in Ordnung.) Doch was ist das? Im dunklen Flur verriegelt jemand von innen die Wohnungstür. Die Gestalt trägt dunkle Handschuhe, und im ersten Moment könnte man an das klassische Utensil eines Giallo-Mörders denken, doch bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass es sich um Haushaltshandschuhe aus Gummi handelt. Der Eindringling (ist er überhaupt einer?), der durch eine Strumpfmaske vermummt ist, schleicht durch einige Räume der Wohnung und benimmt sich dabei merkwürdig - es scheint sich jedenfalls um keinen normalen Einbrecher zu handeln. Während der alte Mann die griechische Lyrik beiseite gelegt hat und nun in Walt Whitmans klassischem Gedichtband "Grashalme" liest, greift sich der unheimliche Gast ein großes Fahrtenmesser, nähert sich dem Mann, der nun laut und in pathetischem Tonfall liest, von hinten und sticht ihn brutal in den Rücken, dass das Blut (oder verdünnte Ketchup) nur so spritzt und der arme Mann sein Leben aushaucht. Und nun folgt der beste Moment des Films: Der Mörder lässt sich erschöpft in einen Stuhl fallen und zieht sich die Maske vom Gesicht - es ist derselbe Mann, Giulio Questi. Und er gibt einen erleichterten Stoßseufzer von sich: "Ah! Endlich! Er und seine Gedichte! Unerträglich! Sappho, Anakreon, Whitman!" Und dann sticht er dem Toten gleich noch einmal in den Rücken. Nachdem er zur Ruhe gekommen ist, ruft er das zuständige Polizeirevier an und gesteht den Mord: Er, Dr. Giulio Schizo, habe gerade in seiner (!) Wohnung einen Mann getötet, einen Mr. Giulio Phrenic, mit dem er schon seit 78 Jahren zusammenlebte. Er habe ihn einfach nicht mehr ertragen können. Und dann äußert er noch eine Bitte: Wenn die Polizei zu ihm kommt, soll sie doch die Sirene möglichst laut aufdrehen, weil er das liebt!

Blutbad
Zweimal das Gesicht von Questi, zweimal Giulio, Schizo-Phrenic und Jekyll/Hyde, und zur Erinnerung, 2002 war Questi 78 Jahre alt. Am Telefon mit der Polizei nennt Dr. Schizo sogar seine (Questis) echte Adresse in Rom, Via Tiepolo 11. Questi hat diesen schönen kleinen Film also über sich selbst gedreht, natürlich auf einer metaphorischen Ebene und mit einer gehörigen Portion Selbstironie versehen.



LETTERA DA SALAMANCA
2002
Musik: Ludwig van Beethoven
20:33 min

Der Cavalier Nada de Nada y Nada
Ein alter Mann (natürlich wieder Questi) blättert in seiner Wohnung in einem Bildband mit Werken von Man Ray, als es an der Tür klingelt. Niemand ist da, doch eine Visitenkarte wurde unter die Tür geschoben - sie ist von einem Cavalier Nada de Nada y Nada (also auf Deutsch sinngemäß von einem Ritter von und zu Nichts), seines Zeichens Professor der Theologie an der Universität Salamanca. Und wie aus dem Nichts kommend, ist dieser spanische Edelmann und Gelehrte (auch Questi) plötzlich doch in der Wohnung - und unter der Krempe eines Schlapphutes ist sein Gesicht vollständig in schwarzen Schatten getaucht. Ein auf Anhieb äußerst unheimlicher Zeitgenosse. Als er zu sprechen beginnt, klingt seine Stimme kaum menschlich - es ist ein schwer verständliches, ebenso mechanisch wie melodisch klingendes Gebräu, das vielleicht mit einem Vocoder oder einem ähnlichen Gerät aus Questis Stimme erzeugt wurde. Die Hoffnung des Bewohners (ich nenne ihn jetzt einfach mal Questi), dass ihm der Professor aus Salamanca einen Ehrendoktortitel seiner Universität antragen möge, wird nicht erfüllt. Vielmehr übergibt Nada de Nada y Nada (der darum bittet, einfach "Herr Nichts" genannt zu werden) einen Brief des Dekans seiner Fakultät, und daraus erfährt Questi eine erstaunliche Geschichte: Da Computer nun auch in der Theologie Einzug gehalten haben, haben die Professoren der Fakultät es mit Hilfe eines begabten Hackers (des Sohns des Hausmeisters) geschafft, in den Universellen Computer einzudringen und gewisse Fragmente der Absoluten Datei zu erbeuten, in der der Wille Gottes niedergelegt ist! Unter den abgesaugten Daten befanden sich auch Informationen zum Schicksal individueller Menschen - darunter das Todesdatum von Questi. Da sahen es die Theologen als ihre Pflicht an, ihm diese Information nicht vorzuenthalten - sie steckt in einem versiegelten Umschlag, der dem Brief beiliegt. Es wird Questi anheimgestellt, ob er den Umschlag öffnen will oder nicht. Nebenbei bringt Questi (der Regisseur oder vielmehr Nichtregisseur) auch hier wieder etwas Lyrik unter, vom spanischen Dichter Eloy Santos (der 1963 in Salamanca geboren wurde).

Ein Toter kehrt vorübergehend ins Leben zurück
Questi (der Protagonist) entscheidet sich, den Umschlag zu öffnen und seinen Todestag zu erfahren - es ist der 6. November 2002. Natürlich hat man als Zuschauer erwartet, dass genau heute, am Tag der Handlung, der Tod zuschlagen soll, doch falsch gedacht - der Film spielt am 9. November, das vorgesehene Datum ist also schon vorbei. Doch der Besucher - der, was man eh schon ahnte, sich als Gevatter Tod entpuppt - entschuldigt die Verzögerung damit, dass er am Ort eines Flugzeugabsturzes ein erotisch-theologisches Zusammensein mit einem weiblichen Skelett hatte, das ihn etwas aufhielt. Questi als ein Mann von Welt werde dafür sicher Verständnis aufbringen, meint er. Das tut Questi auch, denn er wähnt sich auf der sicheren Seite, da das Datum ja nun abgelaufen sei. Doch da wird er eines Besseren (oder für ihn Schlechteren) belehrt: Das Verdikt gilt immer noch und wird eben zum erstmöglichen Termin (also jetzt) erfüllt. Questi will sich mit Argumenten herauswinden, doch es hilft alles nichts. Der Tod teilt ihm mit, dass er eigentlich schon gestorben und in seiner jetzigen Inkarnation eigentlich nur ein Traum des toten Questi sei. Als ihm der leichte Verwesungsgeruch in der Wohnung als Beweis nicht ausreicht, wird Questi aufgefordert, doch mal ins Schlafzimmer zu schauen - und tatsächlich, da liegt der tote Questi im Bett. Während der bisherige Questi nun aus der Handlung verschwindet, erhebt sich der Tote - quasi in einer letzten Anstrengung, doch noch ins Leben zurückzukehren - splitternackt aus dem Bett, schlurft duch die Wohnung und versucht dann, die Universität Salamanca anzurufen. Doch während er noch auf die Verbindung wartet, nimmt ihm eine Hand (im selben Gummihandschuh wie die von Dr. Schizo) den Hörer aus der Hand. Der vorübergehend verschwundene Señor Nada de Nada y Nada ist wieder da - die Frist ist endgültig abgelaufen. Und diese morbid-makabre Reflexion eines alten Mannes über den Tod - seinen eigenen Tod (der dann allerdings noch zwölf Jahre auf sich warten ließ) - ist zu Ende. - Wieso entschied sich Questi für Salamanca und nicht für Bologna, das über eine ähnlich alte und ehrwürdige Universität verfügt? Vielleicht liegt es neben dem Bezug zu Eloy Santos auch daran, dass nach einer alten Geschichte der Teufel persönlich theologische Vorlesungen in Salamanca gehalten haben soll.



TATATATANGO
2003
Musik: Carlos Gardel
13:45 min

Am Anfang des Films sieht man den Buchdeckel einer italienischen Ausgabe von Georg Groddecks klassischem psychoanalytischem Werk "Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin" (Freud hat das "Es" von Groddeck übernommen), danach "Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe" des Symbolisten Marcel Schwob, und Emmanuelle Arsans "Emmanuelle" kommt auch noch ins Bild - damit wird schon mal ein bisschen angedeutet, in welche Richtung es geht. Und dann werden wir zur Tangomusik von Carlos Gardel Zeuge eines blutigen Eifersuchtsdramas in einer Wohnung, die wir wieder in der Via Tiepolo ansiedeln können. Ein Mann und eine Frau umarmen und küssen sich - dass sie beide Plastikmasken tragen, stört sie dabei nicht weiter. Der Mann greift der Frau an die Brüste, doch die sind auch aus Plastik, dann zwischen die Beine - hier ist nun nichts aus Plastik, doch in Wirklichkeit greift sich Questi selbst zwischen die Beine, so geschickt gefilmt, dass man das tatsächlich für den Körper einer Frau halten kann. Doch unbemerkt von den beiden schleicht sich ein zweiter Mann herbei, vielleicht der Ehemann der Dame, und beobachtet das Treiben - anscheinend eifersüchtig, doch auch er trägt eine Maske. Schließlich zückt er einen Revolver und schießt das Liebespaar über den Haufen, und wieder spritzt das Blut (oder Ketchup), dass es eine wahre Freud' ist. Dann setzt er sich aufs Klo und schießt sich in die Schläfe - und richtet auch auf den Fließen der Wand eine feucht-rote Sauerei an.

Sauerei im Bad
Die von Nachbarn alarmierte Polizei in Person des Kommissars und seines Assistenten (von Ersterem sieht man das Gesicht nur schräg von hinten, und von Letzteren sieht man überhaupt nur die Füße) wundert sich über die Masken. Zuerst wird dem Mörder die Maske abgenommen, und wie man schon im Voraus weiß, wenn man die beiden vorherigen Filme gesehen hat, kommt darunter Questi zum Vorschein. Dann wird das männliche Opfer demaskiert, und natürlich ist es auch Questi, und die Verwunderung des Kommissars nimmt noch zu. Als aber hinter der Maske der Frau auch wieder Questi erscheint, ruft der Kommissar entgeistert "Nein! Nicht schon wieder! Perverser!" und begutachtet die Plastiktitten (die wohl eigentlich für den Fasching gedacht sind). Und dann denkt er nach - und kommt zum Schluss, dass hier weder der Gerichtsmediziner noch ein Psychiater von Nutzen sein können. Jede Erklärung, die auf eineiige Drillinge, Klone oder dergleichen zurückgreift, bezeichnet er als offenkundigen Unsinn - nein, hier ist etwas Höheres im Spiel! Und er fragt den Assistenten, ob er schon von der Heiligen Dreifaltigkeit gehört hat? Da das offenbar eine hässliche theologische Angelegenheit ist und er nichts falsch machen will, erklärt er die Untersuchung am Tatort für vorläufig beendet und kündigt an, sich mit dem zuständigen Kardinal in Verbindung zu setzen ...

Der Kommissar wundert sich über das, was er vorfindet
Was will Questi uns mit diesem Film sagen? Ich weiß es nicht genau, aber auf jeden Fall handelt es sich um eine thematische Variation des ersten Films. Nur gibt es jetzt nicht zwei, sondern drei Inkarnationen von Questi. Sozusagen eine multiple Persönlichkeit, oder, mehr theologisch gesprochen, eine schizophrene Dreifaltigkeit.



MYSTERIUM NOCTIS
2004
Musik: Alban Berg, Arnold Schönberg
34:52 min

Ein Freund der Dunkelheit, der zur Strecke gebracht werden muss
In der Wohnung, die wir nun schon kennen, ist für längere Zeit der Strom ausgefallen, und der Bewohner, den wir natürlich wieder Questi nennen, behilft sich nachts mit Kerzen und einer Taschenlampe. Doch Questi kommt mit der nur höchst unzureichend erleuchteten Dunkelheit psychisch nicht zurecht, er entwickelt eine Art von depressivem Wahn. Am dritten Tag beginnt er Tagebuch zu führen. Wie ein halbverrückter Protagonist von Poe bringt er seine wirren Gedanken zu Papier, und über Questis Stimme aus dem Off haben wir daran Teil. Ein schabendes, kratzendes Geräusch, das irgendein Insekt verursacht, nimmt er in unnatürlicher Lautstärke wahr, und er fühlt sich davon bedroht. Questi entschließt sich zum Gegenschlag. In einer vielbändigen Enzyklopädie recherchiert er bei Kerzenlicht, dass es sich bei dem Störenfried um einen Vertreter der Art tenebrione (Mehlkäfer, aus der Gattung der Schwarz- oder Dunkelkäfer, lat. Tenebrionidae) handeln muss, einem "Freund der Dunkelheit" (wie es in der Enzyklopädie heißt), dessen Name von tenebra (Nacht, Dunkelheit, das (auch moralisch) Dunkle an sich) abgeleitet ist. Freund der Dunkelheit! Das kann kein Zufall sein. Er muss diesen Feind zur Strecke bringen! Schließlich spürt er ihn auf - doch kein reales Exemplar, sondern eine Abbildung in einem illustrierten Insektenbuch - und erschlägt ihn mit der flachen Hand. Aber dem Triumph folgt schnell Ernüchterung, denn nun läuft plötzlich das Wasser im Bad. Wie kann das sein? Gibt es etwa noch jemand in der Wohnung? Questi muss auf der Hut sein!

"Nur 99,90 Euro, Ratenzahlung möglich!"
So geht das noch eine Weile dahin. Da Questi Fenster und Wohnungstür verrammelt hat, wird für ihn auch der Tag zur endlosen Nacht. Er hat eine unvermutete Begegnung mit einer Art von Geist, der sich später als Lauren Bacall entpuppt, und plötzlich geht von selbst der Fernseher an und überschüttet ihn mit einem rasenden Wort- und Bilderschwall, in dem sich Unfälle, Katastrophen und Gewaltausbrüche aller Art mit Werbung abwechseln. Spontan fragt man sich, ob es wirklich Questi ist, der verrückt ist, oder nicht doch die Welt da draußen. Aber letztlich ist das auch nur ein Hirngespinst. "Der Satellit hat aufgehört zu kotzen", so umschreibt Questi das Ende dieser Episode im Tagebuch. Nach sieben Tagen Stromausfall klingelt es plötzlich an der Tür. Es klingelt? Dann muss der Strom ja wieder da sein. In der Tat, so ist es. Widerwillig öffnet Questi die Tür, und vor ihm steht ein zweibeiniges sprechendes Schwein, oder wenigstens ein Mann mit einer Schweinemaske aus Plastik. Auf jeden Fall handelt es sich um einen Vertreter, der Questi einen Staubsauger andrehen will, für nur unglaubliche 99,90 Euro, Ratenzahlung möglich! Der ganz normale Wahnsinn hat Questi wieder. Und er kauft den Staubsauger - er ist nicht in der Lage, "nein" zu sagen. Die Normalität kann ziemlich wundervoll sein, schreibt er zuletzt in das Tagebuch. - Diesmal gibt es also nur einen Questi in der Wohnung, doch der lebt in einer reichlich kafkaesken Welt, die er sich in seinem Kopf selbst zusammenspinnt. Aber vielleicht ist es ja doch der Wahnsinn der Welt, der den Wahnsinn von Questi bedingt. Jedenfalls scheint Questi (der Filmemacher) so etwas sagen zu wollen.



REPRESSIONE IN CITTÀ
2005
Musik: W.A. Mozart, Béla Bartók
25:24 min

Ein Agent der Gay-Lussac-Spezialeinheit
Auch hier gibt es nur einen Questi in seiner Wohnung, und am Beginn des Films nimmt er ein Bad. Doch während er in der Badewanne liegt und sich von einer Mozart-Arie berieseln lässt, brechen zwei Männer in die Wohnung ein. Zur "Begrüßung" drücken sie ihn erst einmal unter Wasser, als wollten sie ihn ertränken, doch rechtzeitig wird der nach Luft japsende Questi wieder emporgelassen. Und nun stellen sich die beiden Herren (die wieder einmal Maske tragen) vor: Sie sind von der städtischen Gasgesellschaft, und zwar von der Gay-Lussac-Spezialeinheit. Sie wurden zu Questi geschickt, weil er in seiner Wohnung permanent gegen das Gesetz von Gay-Lussac verstoße, und so etwas kann natürlich nicht geduldet werden. Questi hat keine Ahnung, wovon die Rede ist, und er protestiert energisch, aber völlig erfolglos gegen die Vorgehensweise der Gas-Spezialagenten. Und jetzt geht es erst richtig los: Questi wird eine Injektion mit einer Wahrheitsdroge verpasst, weil er leugnet, etwas über den Zusammenhang von Druck, Volumen und Temperatur zu wissen. Es wird zu seinem Nachteil ausgelegt, dass sich in seinem Bücherregal vor allem Lyrikbände finden (und es wird kurz ein Gedicht von Sylvia Plath zitiert). Weil Questi nach wie vor leugnet, das Gesetz von Gay-Lussac gebrochen zu haben, wird die Schraube angezogen: Einer der Männer bohrt mit einer Bohrmaschine ein Loch in den Oberarm des schreienden Questi. Doch selbst das ist noch nicht alles. Da Questi immer noch kein Geständnis ablegt und ihm als Motiv "molekulare Unterschlagung" und "metaphysischer Gebrauch" unterstellt wird - natürlich hat er wieder keine Ahnung, wovon die Rede ist -, wird er immer schärfer bedrängt. Als letzter Beweis seiner Schuld wird ein Gedicht vorgebracht, das er selbst als "Jugendsünde" verfasst hat. Der nächste Eskalationsschritt besteht darin, ihm mit einem Schneidbrenner die Füße zu verbrennen. Und als letzter Akt der "Läuterung" wird dem vor Schmerz und Angst kreischenden Questi mit einem Löffel ein Augapfel herausgetrennt und in die Hand gedrückt. Wenn er diesen Augapfel nun (mit seinem verbleibenden Auge) ansehe, werde er daraus die Weisheit und Einsichten gewinnen, die er in den Gedichten vergeblich suche, meinen die beiden Herren von der Spezialeinheit.

Mit dem Zweiten sieht man (jetzt nicht mehr) besser
REPRESSIONE IN CITTÀ ist der am offensten politische Film des Zyklus, denn natürlich steht die Gasgesellschaft stellvertretend für den Staat, für die internationalen Konzerne, für die Gesellschaft insgesamt, die den Einzelnen im erbarmungslosen Würgegriff halten. Während in MYSTERIUM NOCTIS das Kafkaeske in Questis Kopf stattfindet, ist es in REPRESSIONE IN CITTÀ die Realität. Ach ja: Am Ende brät Questi das Auge in einer Pfanne auf dem Gasherd ...



VACANZE CON ALICE
2005
Musik: Maurice Ravel
17:08 min

Im Wald des Schwarzen Priesters
Das ist der Film der beiden Ausnahmen - Questi ist nicht der einzige Darsteller, und es wurde nicht in seiner Wohnung gedreht, sondern in einem Häuschen in einer bergigen Gegend und im benachbarten Wald. Vielleicht machte Questi da gerade Urlaub, vielleicht ist er auch nur zum Drehen hingefahren. Noch eine Besonderheit gibt es: Der Film wird im Vorspann Lewis Carroll gewidmet, dem Autor von "Alice im Wunderland". Questi sitzt nun in einem Sessel in einer rustikalen Wohnstube und liest in einem Band mit Carrolls "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln". Wieder einmal hören wir Text aus einem Buch durch Questis Stimme aus dem Off - er spricht dabei den Namen der Protagonistin nicht englisch aus, sondern wie den Namen der italienischen Sängerin Alice. Während er so in das Buch vertieft ist, klopft ein Mädchen von außen ans Fenster - und das wird nun nicht von Questi mit einer Maske gespielt, sondern tatsächlich von einem Mädchen, von einer Pauline Mancini. (Es gibt heute eine Sängerin dieses Namens, deren Videos man auf YouTube findet, aber das ist nicht dieselbe Pauline Mancini.) Das Mädchen scheint um Hilfe zu bitten. Als er vor die Tür tritt, ist sie weg, aber sie hat einen Zettel zurückgelassen, in dem sie tatsächlich um Hilfe bittet, und zwar im "Wald des Schwarzen Priesters" - anscheinend ist sie selbst so eine Art von Alice, die in märchenhaft-vertrackte Schwierigkeiten geraten ist. So macht sich Questi also auf in den Wald, um ihr zu helfen. Doch das war keine so gute Idee, wie sich bald zeigt. Er ist ja nicht mehr der Jüngste und kommt im dichter werdenden Wald ins Keuchen, die Zweige schlagen ihm ins Gesicht, er muss aufpassen, nicht über Wurzeln zu stolpern, und er droht die Orientierung zu verlieren. Doch (bewusst ausgelegte?) Spuren locken ihn weiter in den Wald - eine an einem Baum befestigte Kinderzeichnung eines Mädchens (sicher des Mädchens), Schulsachen mit einer Art von Poesiealbum, und an einem Ast hängt ein Höschen, das Questi ausgiebig begutachtet. Als er schließlich auf das zunächst so harmlos und hilfsbedürftig wirkende Mädchen trifft, hat es sich verändert. Auf ihrem rechten Auge klebt nun ein großes Pflaster, und darauf wiederum klebt ein Bild, das wie ein grüner Drache oder Tyrannosaurier aussieht - was immer das bedeuten soll. Und das Mädchen erweist sich als wahrer Satansbraten. Sie spielt dem armen Questi böse mit, und er muss froh sein, überhaupt lebend davonzukommen. Als sie fröhlich seilhüpfend das Weite sucht, kann er ihr nur noch "Puttana!" (Schlampe, Nutte) hinterherrufen.

Böse Überraschung
Was hat das nun wieder zu bedeuten? Wer ist das Mädchen? Ist es eine böse Waldfee, die sich aufgemacht hat, Questi einen bösartigen Streich zu spielen? Ist der Film eine Allegorie auf die Gedanken und Begierden eines dirty old man, die er besser unterdrücken sollte? Oder ist Questi schlichtweg beim Lesen des Buches eingeschlafen und hat sich in die Welt von Alice hineingeträumt? Vielleicht von allem ein bisschen. Man kann und soll sich wohl seinen eigenen Reim darauf machen.



VISITORS
2006
Musik: Béla Bartók
21:19 min

Auch VISITORS trägt im Vorspann eine Widmung: "Dieser Film ist gewidmet dem Tod einer Generation, die mit dem Hass und Blut des Kriegs konfrontiert wurde". Es beginnt wieder mit einem alten Mann in der bekannten Wohnung. Mit einem kleinen Vorbehalt, mit ein bisschen Sträuben nenne ich auch ihn Questi. Auf einem Computermonitor in der Wohnung liest man einen Text der (fiktiven) "Nationalen Vereinigung der 1944-45 Getöteten": "Lieber Überlebender, nach 50 Jahren der Nachforschung haben wir dank neuer Technologien Ihre Adresse herausgefunden. Wir sind eine Gruppe von Faschisten, die Sie in den Tagen unserer gemeinsamen Jugend, die wir auf entgegengesetzten Seiten verschleudert haben, mit vorgehaltener Pistole erschossen haben. Wir haben Sie endlich gefunden. Unsere konstanten Besuche sollen Sie nicht belästigen, sondern eher Gelegenheiten zur Klärung und zu einer sorgenvollen Anfrage bieten. Ohne Groll, NVdG." Questi wälzt sich unruhig im Bett, und von seiner Stimme aus dem Off erfährt man, dass seit dem Tag, als die elektronische Botschaft mysteriöserweise auf dem Monitor erschien, er jede Nacht von diesen Gestalten heimgesucht wird, die jetzt durch die Wohnung schleichen. Sie tragen Masken, doch diesmal sind es keine Strumpf- oder Karnevalsmasken, sondern sie zeigen mit Hilfe aufgeklebter Fotos realistische Gesichter - individuelle Gesichter von Personen, die wirklich gelebt haben oder zumindest so ausgesehen haben könnten. Es sind die Geister der von Questi im Partisanenkrieg getöteten, um nicht zu sagen ermordeten, politischen Gegner, die ihn nun Nacht für Nacht heimsuchen. Während Questi bisher versuchte, die schweigend umherwandelnden Gestalten zu ignorieren, verliert er nun die Geduld und versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Die Geister der Vergangenheit
Und schon sind sie da, zu fünft stehen die Maskenköpfe (ohne Körper) auf dem runden Wohnzimmertisch. Oder doch nicht? Mal sind sie da, dann wieder nicht. Questi verliert langsam die Nerven. Und dann beginnen die echten oder eingebildeten Geister zu sprechen - jeder von ihnen erzählt Questi, mit welcher Waffe er von ihm getötet wurde. Bei einem waren es sechs Schuss mit einer englischen Maschinenpistole in den Magen. Questi fühlt sich immer unbehaglicher und greift zu einer Flasche Wein oder Schnaps, um sich zu beruhigen. Wie sich letztlich herausstellt, sind die Geister hier, weil ihr endgültiger Übertritt ins Totenreich durch die Tatsache verhindert wird, dass Questi noch am Leben ist. Erst wenn auch Questis Körper im Grab verfault, werden alle damals von ihm Getöteten die irdischen Gefilde verlassen können. Und zwar mit dem Raumschiff eines gewissen Admiral Nekrosis - nächstmöglicher Termin ist am nächsten Samstag. Ziel der Reise ist ein Schwarzes Loch in einer anderen Galaxie. Alle an Bord werden dann aus der Raumzeit gelöscht werden, so als ob sie nie existiert hätten. Zum Schluss dieser Erklärung legt einer der Geister eine geladene Pistole auf den Tisch. Oder hat sie Questi selbst hingelegt? Die Geister bieten eine Gegenleistung für den von Questi erwarteten Selbstmord: Eigentlich müsste auch er nach seinem Tod solange im irdischen Zwischenreich ausharren, bis alle tot sind, mit denen er zu Lebzeiten zu tun hatte. Doch sie würden ihm diese womöglich jahrzehntelange Leidenszeit ersparen, indem sie ihn sofort auf das Raumschiff schmuggeln und ihm so das kosmische Nirwana verschaffen. Questi trinkt noch ein Glas und nimmt die Pistole in die Hand. Wann fliegt dieses Raumschiff ab? fragt er die Geister, die gar nicht mehr da sind (und vielleicht nie da waren). Wahrscheinlich schießt er sich gleich in den Kopf, aber vorher ist der Film zu Ende.

Der Protagonist ist angeschlagen
VISITORS ist neben LETTERA DA SALAMANCA vielleicht der persönlichste Film des Zyklus. Questi (der echte) kämpfte 1943-45 tatsächlich als Partisan gegen die faschistischen Schwarzen Brigaden der Republik von Salò (die auch den Hintergrund zu Pasolinis DIE 120 TAGE VON SODOM bildet). Ich weiß nicht, ob Questi wirklich gefangene Gegner erschossen hat, und ob er deshalb von Schuldgefühlen oder Ähnlichem heimgesucht wurde (deshalb habe ich den Protagonisten des Films nur mit Vorbehalt "Questi" genannt), aber VISITORS legt das durchaus nahe. Eine prägende Zeit war das damals für ihn auf jeden Fall. Es wird allgemein angenommen, dass Questis Erfahrungen als Partisan auf seine Filme abgefärbt haben, vor allem auf seinen Western SE SEI VIVO SPARA, und Questi selbst bestätigt das in IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI.



Die sieben Filme in ihrer spartanischen Machart sind sicher nicht jedermanns Sache. Auch ich war nach dem ersten Sehen leicht enttäuscht. Die Optik der Digitalkamera ist doch manchmal recht steril, es gibt technische Unzulänglichkeiten, und nach zwei oder drei Filmen wollte ich auch mal ein anderes Gesicht als das von Questi und andere Schauplätze als seine Wohnung sehen - die eine Ausnahme VACANZE CON ALICE reißt es nicht raus. Vor allem aber hatte ich etwas anderes erwartet. Natürlich war von vornherein klar, dass es nichts in der Art von Questis drei Spielfilmen geben würde, aber ich wusste nicht, was mich erwartete - mit einer derart solipsistischen Unternehmung hatte ich jedenfalls nicht gerechnet. Aber nachdem ich nun wusste, womit ich es zu tun hatte, haben die Filme bei einer zweiten Sichtung doch deutlich an Statur gewonnen. Mit ihren schrägen bis bizarren Einfällen, mit ihrem Humor, der einem manchmal im Halse steckenbleibt, mit vielen Details und verdeckten Anspielungen, von denen ich sicher manche gar nicht erfasst habe, regen die Filme zur Interpretation an. Die muss nicht unbedingt schlüssige Ergebnesse liefern, aber das spricht ja nicht gegen die Filme - ganz im Gegenteil.