Montag, 8. Mai 2017

Weiblich und visionär auf dem 17. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films – Teil 1


Auf dem diesjährigen goEast-Festival in Wiesbaden widmeten sich zwei Retrospektiven dem Schaffen weiblicher Regisseure in Mittel- und Osteuropa. In der Sektion „Feministisch wider Willen / Reluctant feminism“ liefen 13 Langfilme sowie knapp zwei Dutzend Kurzfilme weiblicher Regisseure zwischen 1930 und 2014. Die Hommage-Sektion widmete sich der ungarischen Regisseurin Mészáros Márta und zeigte acht ihrer Spielfilme sowie zwei Kurzfilme.
Ich trieb mich dieses Jahr schwerpunktmäßig noch mehr als in den vorigen Jahren (2013, 2015, 2016) bei dem Retrospektiv-Programm herum. Eine große Stärke des Retrospektiv-Programms dieses Jahr lag darin, dass die Filmblöcke meist als Double-Features mit einem Kurzfilm und einem Hauptfilm gestaltet waren.


Donnerstag, 27. April

ab 17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

BUBA
Regie: Nutsa Gogoberidze
UdSSR 1930
39 Minuten, DCP
Impressionen vom Leben in einem Bergbauerndorf in Georgien.
© goEast Filmfestival
In dokumentarischen, ethnografischen Bildern erleben wir den mühseligen Alltag einiger Bergbauern in einem wirtschaftlich unterentwickelten Gebiet Georgiens. Zu den beeindruckendsten Szenen gehört zweifelsohne das Einsammeln von Kuhdung, bei dem Jung und Alt gleichermaßen ohne Berührungsängte mitmischen und mitmatschen. Auch ein Gemeinschaftstanz und diese dunkle, stickige Hütte mit dem Kleinkindbett sind mir in Erinnerung geblieben. Ansonsten überwog während fast der gesamten Sichtung der Ärger über die penetrante Musikbegleitung (die als Tonspur bei der DCP enthalten war): abwechslungsweise fürchterliches elektronisches Gedudel oder Gewummere ohne jeglichen Bezug zu den Bildern – oder aber Ambientegeräusche aus der Konservendose, „passend“ zu den gerade laufenden Bildern. Wenn also Flussimpressionen zu sehen waren, gab es auch Geräusche von fließendem Wasser. Wenn ein windgepeitschtes Getreidefeld gezeigt wurde, hörte man schlecht aufgenommene Wind- und Sturmgeräusche. Die dahinter liegende Vorstellung, dass Stummfilmen etwas fehlt, nämlich der Ton, dass die Bilder also „unvollständig“ sind, könnte man putzig finden, wenn das nicht so ärgerlich wäre.
Nein, es war wirklich schwer, sich auf den Film zu konzentrieren. Das ist schade, denn die sowjetisch-georgische Filmemacherin Nutsa Gogoberidze war eine bedeutende Pionierin der Filmgeschichte: eine der frühen weiblichen Regisseure in der Sowjetunion – und wahrscheinlich die erste georgische Regisseurin überhaupt. Ihre Filmkarriere war allerdings nur von kurzer Dauer. Ende der 1930er Jahre wurde ihr Ehemann, ein hochrangiger Offizier der Roten Armee, im Zuge des Großen Terrors verhaftet und hingerichtet. Sie selbst wurde ins Lager geschickt und verbrachte dort 12 Jahre. Gogoberidze kehrte als gebrochene Frau zurück, drehte nie wieder einen Film und war emotional nicht mehr in der Lage, mit ihrer eigenen Tochter Lana zu kommunizieren. So sprach sie, als Lana Regisseurin wurde, mit ihr auch nicht über ihre frühere Filmkarriere. Sie arbeitete wohl noch bei einem sprachwissenschaftlichen Institut. Auf Nutsas Rückkehr aus dem GULag, die Lana später selbst in einem Film verarbeitet hat, komme ich noch weiter unten zu sprechen.
Vorführstörungen: 
(diese Zusatzrubrik richte ich hiermit ein, weil die reibungslosen Projektionen – besonders im Murnau-Kino – nunmehr eher die Ausnahme als die Regel waren)
Der Film startet mittendrin – etwa bei Minute 1 oder 2. Er wird angehalten und nach einer kleinen Pause dürfen wir ihn dann von Anfang an sehen.

RVANYE BAŠMAKI („Zerrissene Stiefel“)
Regie: Margarita Barskaja
UdSSR 1933
85 Minuten, 35mm
Deutschland, wahrscheinlich kurz vor der Machterlangung der Nazis. Einige Schulkinder wollen die Streikaktivitäten ihrer sozialdemokratischen Väter unterstützen. So kommt es auch in der Schule zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterkindern und bürgerlichen Kindern.
RVANYE BAŠMAKI ist der erste sowjetische Kinofilm, in dem Kinder die Hauptrolle spielen – und gemäß den Angaben des Programmhefts der erste internationale Kinderspielfilm mit Ton (Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE kam etwa zeitgleich heraus). Das Resultat ist in vielerlei Hinsicht absolut faszinierend, in anderen Bereichen wieder etwas weniger überzeugend.
Zunächst zu ersterem: das Besetzen von Laiendarstellern, zumal Kinder-Laiendarstellern, ist etwas, was man vielleicht mit dem italienischen Neorealismus (hier allerdings doch nur in Nebenrollen) oder mit einigen Filmen der „nouvelle vague“ verbindet, also mit dem Kino nach dem Zweiten Weltkrieg. Besetzungen mit Laiendarstellern gab es natürlich schon vorher. Jean Renoir nutzte schon Laiendarsteller (z. B. in TONI, über den Manfred hier schon schrieb). Barskaja hingegen engagierte ein ganzes Kollektiv an Laiendarstellern im Alter zwischen 1 1/2 und 13 Jahren (so eine Infotafel zu Beginn des Films). Die Kinder waren keine ethnischen Russen, sondern deutsche bzw. deutschstämmige Kinder, die sie aus einer deutschen Schule in einer der beiden russischen Hauptstädte rekrutierte. Das hatte den Hintergrund, dass Barskaja zweisprachige Kinder haben wollte, die zwischendurch (für die „deutsche“ Atmosphäre des Films) auch mal einige kurze Sätze auf Deutsch sprechen bzw. Lieder auf Deutsch singen konnten.
Diese Mühen wurden allerdings zerstört. Der Film wurde Anfang der 1960er Jahre wiederentdeckt – und dann „gesäubert“. Die Tonspur, offenbar größtenteils in Direktton aufgenommen, wurde komplett ersetzt: das „unsaubere“ Russisch der Kinderdarsteller mit dem deutschem Akzent wurde von nativ-russischen, weiblichen Sprechern nachsynchronisiert, die normalerweise Animationsfilme einsprachen. Die Original-Tonversion des Films gilt als verschollen.
Die pure visuelle Stärke des Films bleibt. Und seine unbegrenzte Liebe zum Zauber eines „trivialen“ Kinderalltags. RVANYE BAŠMAKI beginnt mit einer ausgedehnten Szene, in der Kinder Doktor spielen: ein kleines Kind hört die anderen mit seinem Stethoskop (einer kleinen Flöte) ab, stellt die Diagnose und vergibt gleich Rezepte. Die kindliche Unbekümmertheit überträgt sich auf den Film: vergiss Plot, vergiss Narration – jetzt wird erst mal gespielt! Die Modernität der „nouvelle vague“ und auch anderer Kinoreformbewegungen scheint hier um 30 Jahre vorweggenommen zu sein. Später gibt es mehr Plot, teilweise auch Politik unter die Nase gerieben – aber diese kleinen Pausen gönnt sich der Film immer wieder. Kinderstreiche, gar die kleine Verschwörung eines Kleinen, der seiner Mutter den Zucker klaut, indem er sich unter dem Tisch versteckt, die Tüte ansticht und ein Glas darunter hält... Visuell ist das ganze sehr ansprechend gefilmt: Barskaja wusste ganz genau, wo sie ihre Kamera hinstellen musste und vor langen, komplexen Plansequenzen hatte sie auch keine Angst.
Der Film „bricht“ zwischendurch immer wieder ein, als es darum geht, dass jetzt mal etwas „politisches Programm abgespult werden muss: mit bourgeoisen Kindern, die Hakenkreuzarmbinden tragen und Petzer sind, mit flotten Arbeiterkindern, die im richtigen Moment aufstehen, die Faust recken und sozialistische Kampfparolen brüllen.
Margarita Barskaja kam wie Nutsa Gogoberidze aus dem Kaukasus, genauer aus Baku. Sie wirkte als Darstellerin und Assistentin bei Aleksandr Dovženko und fühlte rasch, dass ihr Platz eher hinter der Kamera war. 1930 inszenierte sie ihren ersten von drei Filmen. RVANYE BAŠMAKI war der zweite. Der dritte folgte 1937 (OTEC I SYN – „Vater und Sohn“). Barskaja war Anfang der 1930er Jahre sehr erfolgreich, angesehen, Teil des politischen Establishments und führte Briefkorrespondenzen mit Stalin und Lazar‘ Kaganovič höchstpersönlich (einem der engsten Vertrauten in Stalins Clique). Ende der 1930er Jahre wendete sich das Blatt gegen sie: Barskaja wurde in der Ära des Großen Terrors zunehmend isoliert und schikaniert. 1939, mit nur 35 Jahren, beging sie in Moskau Selbstmord.


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

TRAMVAJ IDET PO GORODU („Eine Straßenbahn fährt durch die Stadt“)
Regie: Ljudmila Stanukinas
UdSSR 1973
22 Minuten, irgendeine miese digitale Datei mit Interlace-Streifen
Eine Straßenbahnfahrerin in Leningrad plaudert aus dem Nähkästchen, während eine versteckte Kamera aus dem Fenster die winterliche Stadt begutachtet oder die Passagiere filmt.
TRAMVAJ IDET PO GORODU ist weder ein großer, noch ein besonders ambitionierter Film, aber er ist vergnüglich, charmant und kurzweilig. Er ist eine Art Stadtsinfonie des winterlichen Leningrads: die Metropole ist verschneit und sieht alles andere als glamourös aus. Das ist aber mehr Wintertristesse als das Herausstellen sowjetischen Verfalls. Und bevor es zu traurig wird, gibt es die Passagiere zu beobachten: eifrige Leser, die in ihren Büchern vertieft sind; Verliebte, die sich küssen; müde Angestellte, die mit dem Schlaf kämpfen; Betrunkene, die sichtlich Mühe haben, auszusteigen; junge Marine-Soldaten, denen es trotz Anstrengung nicht gelingt, grimmig auszusehen; alte Damen, die mit ihren eleganten Pelzmänteln Respekt ausstrahlen; Sänger und Gitarristen, die die anderen Passagiere musikalisch unterhalten. Ein ganzes menschliches Mikrokosmos in einem kleinen Straßenbahnwaggon...
Der Film wurde in der Sowjetunion zensiert und eine Stelle gekürzt (wir sahen aber den vollständigen „Director‘s Cut“): zwischendurch erzählt die etwa 40-jährige Straßenbahnfahrerin, dass während der Hungerbelagerung Leningrads eine Nachbarin Tapetenkleister kochte und das Zubereitete auch gerne teilte. Als kleines Mädchen, die sie war, fand die Straßenbahnfahrerin das recht lecker. In der sowjetischen Erinnerungskultur wurde die genozidale Hungersblockade zum heroischen Kampf, zur heldenhaften „Verteidigung“ der Stadt umgedeutet (die Deutschen wollten die Stadt tatsächlich nie erobern, sondern zu Tode hungern) und da passten hungernde Familien, die Tapetenkleister aßen, nicht rein.
Die 86-jährige Regisseurin war bei der Vorführung anwesend. Dass die digitale Kopie extrem schlecht war und sogar hässliche Interlace-Artefakte zeigte, war daher suboptimal. Über Ljudmila Stanukinas habe ich kaum etwas gefunden. Aufgrund ihres Nachnamens kann man eine baltische Herkunft vermuten. Sie gab einige einführende Worte zum Film, doch ich kann mich daran nicht mehr exakt erinnern, weil er im Doppelprogramm mit RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE lief, dessen Regisseurin Lana Gogoberidze auch da war und sprach und ich wohl nicht richtig aufgepasst habe, so dass ich im ersten Moment Stanukinas für Gogoberidze hielt. Das „machte“ aber nichts, denn später „meldete sich“ Stanukinas wieder „zu Worte“...

RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE („Einige Interviews zu persönlichen Fragen“)
Regie: Lana Gogoberidze
UdSSR 1977
95 Minuten, 35mm
Die Journalistin Sofiko mag ihren Job: investigatives Recherchieren und das Interviewen von Menschen machen ihr Spaß. Doch wenn sie nach Hause kommt, muss sie sich noch um den Haushalt kümmern (Kochen, Putzen etc.). Dass ihr eigentlich netter Ehemann sie ständig annörgelt, wenn sie später nach Hause kommt – okay. Dass er eine Affäre hat, setzt Sofiko aber zu. Und dann sind noch die Erinnerungen an die Mutter, die einst aus dem Lager zurückkehrte...
© goEast Filmfestival
Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig
RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE erwischte mich zunächst etwas auf falschem Fuß, denn aufgrund des Programmhefts (und einer etwas kryptischen Ankündigung kurz vor der Projektion) hatte ich einen semidokumentarischen Essayfilm erwartet – vielleicht so etwas wie Pasolinis COMIZI D‘AMORE auf Georgisch – und kein „klassisches“ Familiendrama. Mit zunehmender Laufzeit spielte das aber keine Rolle mehr: aus den falschen Gründen auf den Film gefreut, aber dennoch zurecht.
Gogoberidzes Film ist ein sensibles, autobiografisch gefärbtes Frauenportrait. Es ist eher ein Alltagsfilm als ein Ereignisfilm, und dass Sofikos Ehemann eine jüngere Liebhaberin hat, dürfte wohl die größte „Wendung“ sein. Das ganze ist mit ruhiger Hand inszeniert, aber auch nicht undynamisch: fetzige, bassbetonte 70er-Jahre-Musik, die auch in einem italienischen Genrefilm der Ära nicht deplatziert wäre, läuft, wenn die Protagonistin festen und entschlossenen Schrittes über die Prachtboulevards von Tiflis geht. Zwischendurch pausiert die Handlung, wenn Ausschnitte von Interviews eingeblendet werden, die Sofiko mit diversen Frauen führt. Oder aber ihr plötzlich Bilder aus der Vergangenheit vor die Augen erscheinen. In einem dieser Flashbacks erleben wir die Rückkehr der Mutter aus dem Lager: eine traumatische, schockierende Erfahrung, weil Sofiko eine Frau, die mittlerweile zu einer totalen Unbekannten geworden ist, umarmen und „Mami“ nennen muss.
Das goEast-Programmheft nennt RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE einen der ersten feministischen Filme der Sowjetunion. Tatsächlich ist heute davon ausgehen, dass Frauen im realsozialistischen Osten zwar in der Arbeitswelt integriert waren, davon aber nicht unbedingt von der Last von „Küche und Herd“ befreit wurden. Wir sehen Sofiko arbeiten, zu Interviewterminen fahren, in der Redaktion an der Schreibmaschine sitzen. Abends kehrt sie nach Hause zurück, wo sie noch für ihre zwei Kinder und ihren Ehemann kochen muss – wobei letzterer keinen Finger rührt, sondern lieber hobbymäßig über Tierverhalten philosophiert. Es gehört zu den großen Verdiensten des Films, dass er die herrschende Geschlechterungerechtigkeit im Privaten präzise und unsentimental skizziert und die Belastung Sofikos zeigt, ohne dabei den Ehemann zu dämonisieren. Man würde Sofiko trotzdem eine sich latent anbahnende Liebesgeschichte mit ihrem engsten Arbeitspartner, einem Fotografen, aus vollstem Herzen gönnen. Doch es bleibt bei diesem wunderbar denkwürdigen Rendezvous in dessen Wohnung: er renoviert gerade, ist vollgeschmiert mit Farbe, nur mit großer Mühe improvisiert er eine Sitzgelegenheit für seine Arbeitskollegin, bereitet ihr dann Tee und Sandwiches zu – doch als er aus der Küche zurückkommt, ist sie auf dem Stuhl eingeschlafen. Also setzt er sich auf den Boden und schaut sie lange an, solange, bis sie aufwacht. Nachdem sie das tut, hat sie einige Visionen von schönen Momenten, die sie auf Arbeit mit dem Fotografen erlebt hat; sie merkt, was da los ist, welche Gefühle er für sie hat und was sein könnte – doch dann geht sie...
Ich habe einige Zeit gebraucht, um in RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE reinzukommen: kein Film, der sich beim Zuschauer anbiedert. Allerspätestens bei dem Rendezvous Sofikos mit ihrem Kollegen in dessen Wohnung, wo nichts passiert, wußte ich, dass der toll ist.


ab 22.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

MAJD HOLNAP („Vielleicht morgen“)
Regie: Elek Judit
Ungarn 1979
104 Minuten, 35mm
Eszter und István lieben sich und sind verheiratet – allerdings nicht miteinander. Ihren Ehepartnern ist die Affäre bekannt und bei beiden Ehen kriselt es. Die zwei Liebenden sind in einem Schwebezustand zwischen Ehe und Affäre gefangen. Als István ein kleines Landhaus erbt, eröffnet sich beiden eine Perspektive, vielleicht zusammen ein neues Leben anzufangen.
© goEast Filmfestival
Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig (zumindest auf Farbfilm gedreht)
Wer denkt, dass erst Tarr Béla das ungarische Landleben als eine Aneinanderreihung dreckiger Matschpisten, vollkommen maroder Gebäude, kalter ungemütlicher Zimmer und schlechten Regenwetters gezeichnet hat, von der man nur beim nächsten Glas Alkohol eine zeitweilige Flucht finden kann, wird hier eines besseren belehrt. Hardcore kitchen sink realism auf Ungarisch! Doch ein bisschen anders ist das trotzdem: wo Tarr ein kalter oder zumindest unterkühlter Analytiker bleibt, ist Elek Judit eine Humanistin, die in dem ganzen Dreck und in dieser eiskalten Winterluft nach dem Funken des Menschlichen sucht.
Und die findet sie in einer Vielzahl kleiner Momente. Wenn die beiden Liebhaber in dem vererbten Häuschen zusammen im Bett liegen und Mühe haben, die richtige Schlafposition zu finden – weil verbringen im vererbten Landhaus trotz der wahrscheinlich langen Dauer ihrer Affäre ihre erste gemeinsame Übernachtung haben. Die Momente des ausgelassenen Glücks, wenn Eszter im Garten mit ihren Kindern spielt. Die offensichtliche Zärtlichkeit, die sowohl Eszter wie auch István trotz allem noch für ihre jeweiligen Ehepartner fühlen: Menschen, die sie noch liebkosen wollen, auch wenn sie sie vorher beim Streiten angeschrieen haben. Das Leben ist eben schwierig. Kein Wunder, dass Großes immer wieder auf morgen verschoben werden muss, wenn es schon so schwer ist, heute mit diesem komplexen Gefühlshaushalt umzugehen.
Mehr Licht, mehr Ordnung, höhere Temperaturen, mehr Farben (MAJD HOLNAP ist in Farbe, aber so grau-braun und entsättigt, dass er fast monochrom wirkt) oder geregelte Beziehungsverhältnisse gibt es am Ende nicht. Das dürfte auch die ungarische zeitgenössische Filmkritik damals aufgebracht haben, die sich über die Unordnung in den gezeigten Zimmern echauffierte und einen Hausputz forderte.
Hier ist noch die Gelegenheit, um die absolut fantastische Meszléry Judit, die Darstellerin Eszters, zu loben: vielleicht die tollste Schauspielerin, die ich beim ganzen Festival erleben durfte und das waren sehr viele! Rau und zärtlich, abweisend und attraktiv, mit einer pragmatisch-alltäglichen Gelassenheit und einer sinnlich-erotischen Ausstrahlung. Eine Frau mit der man sich als Mann vorstellen kann, diese fürchterliche ungarische Landtristesse zu ohne Schäden überleben – zumindest bis morgen.
Vorführstörungen: Zu so später Zeit gelingen dem Vorführer die Rollenwechsel nicht mehr wirklich nahtlos – aber angesichts dessen, was sonst noch so passiert ist, wiegt das nicht sehr schwer. Und außerdem quatscht jemand die ganze Zeit. Offenbar mit sich selbst. Nach einer gewissen Zeit merke ich, dass es Ljudmila Stanukinas ist, die immer wieder auf Russisch vor sich hin brabbelt und verbal auf den Film reagiert. Zunächst scheint es, dass sie sich an der sehr expliziten Darstellung von Nacktheit empört (die allerdings absolut nicht exploitativ oder lüstern-fetischisierend daherkommt). Aber auch wenn die Charaktere angezogen sind brabbelt sie immer wieder vor sich hin. Das fällt stark auf, weil MAJD HOLNAP ein extrem leiser Film ist: keine extradiegetische Musik, ländliche Stille ohne Stadtgeräusche, oft absolute Ruhe wenn die Figuren gerade nicht reden. Nun... es stellte sich in den nächsten Tagen heraus, dass der Regisseurin von TRAMVAJ IDET PO GORODU selbst nach dem vierten Filmblock nicht die Energie fehlte, um noch weiter zu brabbeln.


Freitag, 28. April

ab 10.30 Uhr, Presse-Sichtungsraum im Festival-Zentrum (Wiesbadener Casino-Gesellschaft)

ROSSIJA KAK SON („Russland als Traum“)
Regie: Andrej Silvestrov, Daniil Zinčenko
Russland 2016
72 Minuten, DVD
Dokumentarisches und Essayistisches zur und in der sibirischen Stadt Kansk.
ROSSIJA KAK SON ist ein Gemeinschaftsprojekt, das zwanzig Videokünstler während eines Videofilmfestivals in der Stadt auf die Beine gestellt haben. De facto gibt es also zwanzig verschiedene Regisseure, und Andrej Silvestrov sowie Daniil Zinčenko sind eher als Koordinatoren denn als alleinige Urheber zu sehen.
Diese Produktionsumstände sind dem Film in positiver wie auch in negativer Weise zu sehen. Unzählige Video-Vignetten sind miteinander montiert und da findet sich Witziges neben Prätentiösem, Poetisches neben Pompösem. Das einzige, was durch den Film wie ein roter Faden läuft, sind „Interviews“ mit Menschen, die erzählen, wie sie kürzlich gewaltsam gestorben sind (nach der dritten Geschichte ist dieses Konzept allerdings nicht mehr besonders originell, sondern nur noch nervig) – und eine junge Frau, die singend durch einen Wald läuft (das bleibt bis zum Schluss ein poetischer Lichtblick). Ansonsten viele kleine Filme. Ein amerikanischer Tourist „lernt“ Russisch und schafft es nicht, das nachzusprechen, was ihm die Stimme auf dem Tape vorsagt (nach einer Minute nicht mehr witzig). Ein Mann am Rand eines Flusses lässt aus der Jogginghose, die er trägt und oben weit auseinander zieht, Raketen in den Himmel schießen (kurzweilig gehalten und irgendwie witzig).
Fazit: einen solchen Film braucht im Grunde kein Mensch, und zu lang ist er auch. Aber in den Gefilden des experimentellen Video-Episodenfilms gibt es bestimmt schlimmeres.
Vorführstörung: eigentlich wollte ich einen der Wettbewerbsfilme schauen, die ich durch die ganzen Retrospektiven im Kino verpasste. Kein besonders extravaganter Plan, denn der Sichtungsraum hat eigentlich immer sämtliche Filme auf Lager, die beim Festival laufen (mit Ausnahme vielleicht einiger Retrospektivfilme). REKVIJEM ZA GOSPOĐU J., der neue Film von Bojan Vuletić, war allerdings nicht da, weshalb ich zwei Retrospektivfilme am Sonntag aus meinem Sichtungsplan streichen musste, um ihn zu sehen. Adrian Sitarus neuer Film FIXEUR war verfügbar, allerdings hatte die DVD einen Defekt und konnte nicht abgespielt werden. Mészáros Mártas ELTÁVOZOTT NAP („Das Mädchen“) war da, doch nach drei Minuten stellte sich heraus, dass die DVD keine Untertitel hat. Von Evgenij Jufit war gar nichts da. Es war schon eine halbe Stunde vergangen, deshalb nahm ich den kurzen ROSSIJA KAK SON. Als sich herausstellte, dass die DVD ein anamorphisch verzerrtes Bild hat, biss ich die Zähne zusammen und schaute trotzdem...

ab ca. 12.00 Uhr, „Bei Gabriel“ in der Rheinstraße
Mittagspause
Bei meinem ersten goEast-Festival 2012 entdeckte ich dieses wunderbare libanesische Lokal und seitdem ist es absolut undenkbar, dass ich nach Wiesbaden fahre, ohne wenigstens einmal hier zu essen. Ich gönne mir einen „Großen libanesischen Teller“ und bekomme, abgesehen von einigen der Filme, die wunderbarste Delikatesse meines diesjährigen Besuchs. Hummus, Falafel, scharfer Couscous-Salat, ein Tomaten-Petersilie-Salat, eingelegte Rote Bete und Auberginen – jede Zutat in der bestmöglichen Zubereitungsqualität. Ein kulinarisches Gedicht.
Wer Wiesbaden besucht, sollte wenigstens einmal hier Mittag essen gehen!


ab 14.00 Uhr, Caligari FilmBühne

ČESKE HRADY A ZÁMKY („Tschechische Burgen und Schlösser“)
Regie: Karel Hašler
Österreich-Ungarn 1914
11 Minuten, DCP
Ein Herr hofiert auf dem tschechischen Land eine Dame und muss dann aus unbekannten Gründen schnellstens nach Prag: da werden Autos entführt, Fahrräder geklaut und schließlich gar Polizisten abgehängt, um rechtzeitig zum Termin zu kommen...
Karel Hašler war so etwas wie ein Universalkünstler: Schauspieler, Theater- und Filmregisseur sowie -autor, Schriftsteller, Dichter, Komponist, Songschreiber, Sänger und Kabarettist – und gemäß dem, was zu sehen ist, war Hašler auch Stuntman. Bei ČESKE HRADY A ZÁMKY führte er nicht nur Regie, sondern schrieb auch das Drehbuch und spielte selbst die Hauptrolle. Der Film selbst war kein Kinofilm, sondern ein Einführungsfilm zu einem Theaterstück mit dem Titel „Pán bez kvartýru“ (Der Herr ohne Wohnung): Teil einer multimedialen Aufführung also. Entsprechend endet der Film ohne „Ende“-Titel, als sich Hašler durch die Dachluke eines Gebäudes nach unten seilt – im Theater sollte er sich wahrscheinlich auch von oben auf die Bühne herunterseilen.
ČESKE HRADY A ZÁMKY kann es in Sachen Witz und Tempo durchaus mit den zeitgenössischen US-amerikanischen Komödien Mack Sennetts mithalten: nachdem Hašler erst einmal losläuft, um in Prag einen ominösen Termin rechtzeitig zu erreichen, gibt es kein Halten mehr. Nach wilden Autoverfolgungsjagden folgen akrobatische Balanceakte auf den Dächern hoher Prager Gebäude – und entweder beherrschte Hašler tatsächlich sein Handwerk so gut, dass er Attrappen vertuschen konnte, oder aber er und seine Co-Darsteller turnten an manchen Stellen tatsächlich 15 Meter über dem Boden. Slapstick-Action made in Bohemia – genau wegen solcherlei Raritäten fahre ich zum goEast. Und wegen des folgenden Hauptfilms...

STARCI NA CHMELU („Hopfenpflücker“)
Regie: Ladislav Rychman
ČSSR 1964
90 Minuten, DCP
Eine Schulklasse hilft im Sommer bei der Hopfenernte. Dabei kommen sich die zwei radikalen Individualisten Filip und Hanka näher: er hat sich aus dem Gemeinschaftsschlafraum davon gemacht und sich mit „geliehenem“ Mobiliar auf dem Dachboden ein gemütliches Einzelzimmer eingerichtet, um in Ruhe lesen zu können (Marx, Masaryk und Seneca) – sie weigert sich, Abends in Arbeitsklamotten herumzulaufen und bevorzugt elegante Garderobe. Der Rivale Hans wirbt ebenfalls um Hanka und intrigiert gegen Filip...
© goEast Filmfestival
Die Kamera schwebt am Rande eines Hopfenstrauch-Hains entlang (oder war das Hopfen? – der Titel des Films lässt das zumindest vermuten). Am Horizont sieht man eine Erhebung, die im leichten Gegenlicht von drei dunkel gekleideten Männern bestiegen wird. Sie sind bewaffnet – nein... wir sind ja nicht in einem Western (oder doch?)... sie tragen Gitarren und fangen an zu spielen und zu singen. Stimmen den Zuschauer in den Film ein und tragen zugleich das Lied vor, das STARCI NA CHMELU immer wieder begleiten wird, nämlich „Téma milenci v texaskách“ (Das Thema der Jeans-tragenden Liebenden). Die Gitarren-Linie wäre, wenn man es sich richtig überlegt, in einem Western auch gar nicht so verkehrt. Dezent ziehen sich die drei Musiker in Schwarz nach knapp einer Minute zurück – werden aber mehrmals wieder zurückkehren, um bei dem gleichen Lied, mit anderem Text, die Handlung wie ein griechischer Chor zu kommentieren. Zuschauer, denen nach diesem Anfang noch nicht alle sensorischen Rezeptoren geöffnet wurden, sind entweder tot oder lebendig-tote Zyniker. Wow! Wenn STARCI NA CHMELU so bleibt, wird das ein Knaller. Tatsächlich wurde er jedoch nur noch besser!
Aus einer total banalen Teenager-Schmonzette im Musical-Format zaubert Ladislav Rychman, der zumindest in seinem englischen Wikipedia-Eintrag als Pionier des tschechischen Musikvideos genannt wird, ein wahres Wunderwerk. Alles ist nur noch Tanz, Musik, Bewegung, Gesang, Farbe, zu purer Essenz konzentrierte Emotion. Das ist dermaßen dicht, dass STARCI NA CHMELU zwischendurch dem puren Experimentalfilm näher scheint als dem narrativen Film. Vielleicht kommt der Film einfach dem Wesen des Musicals (heißt: mit der Filmung von Musik, Tanz und Gesang zu „erzählen“) einfach so nahe wie nur die besten und kühnsten Vertreter seines Genres.
Für sich genommen mögen viele Bilder aus STARCI NA CHMELU etwas formalistisch und abstrakt erscheinen und manchmal könnte man denken, dass die inszenatorische Virtuosität (über die man mehrere Artikel schreiben könnte) zum Selbstzweck wird – doch das ist nicht der Fall. Denn die banale Teenager-Schmonzette wird mit zunehmender Laufzeit immer intensiver und existentieller. Da lieben sich zwei junge Menschen und treffen auf einen doppelten Widerstand: die Rivalität eines anderen Jungen – und den bürokratischen und puritanischen Starrsinn der Erwachsenen, die die Jugendlichen nur drillen wollen, ihnen aber kein eigenständiges Leben zugestehen möchten, oder auch Liebe (und von Sexualität gar zu schweigen). Der Film lässt keinen Zweifel daran, dass er auf der Seite seiner beiden Protagonisten steht. Es gibt eine lange Traumsequenz (für einen Mainstreamfilm, der STARCI NA CHMELU trotz allem eben auch war, sogar außergewöhnlich lang): der Protagonist träumt zu dem romantischen Lied „Den je krásný“ (Der Tag ist schön), dass seine Liebe zu Hanka bald zum Vorbild für die gesamte Gesellschaft wird und sogar die Hopfenernte danach ausgerichtet wird. Später hat sich das ganze ausgeträumt: der Film endet mit der Verbannung der beiden aus der Gesellschaft. Und das ist zweifelsohne eines der großartigsten „happy unhappy ending“, den man sich denken kann: ihre Verbannung ist ihre Befreiung. „Habe keinen Mitleid mit ihnen!“, sagt eine Lehrerin zu dem Rivalen Hans, als dieser dem wegfahrenden Bus der Liebenden hinterher blickt. „Ich bemitleide sie nicht. Ich beneide sie“, sagt er voller Sehnsucht in den Augen und in der Stimme.
Bevor hier noch 20.000 Zeichen mehr schreibe (zum Beispiel über die absolut begnadete Nutzung des Cinemascope-Formats) schlage ich dem geneigten Leser vor, selbst einen Blick auf einige der Musiknummern des Films zu werfen.
Hier ein Teil des oben besprochenen Filmanfangs. Man beachte, wie punktgenau in die Bewegung der Gitarristen geschnitten wird.
Hier die Vorbereitung zum Schulball. Rychman frönt hier in wunderbaren „dutch angles“. Die teilweise silhouettierten Bilder, und auch das Ende des Songs mit dem Aufsagen des Alphabets geben dem ganzen eine fast abstrakte Note.
Hier ein kurzer Ausschnitt aus der langen „Den je krásný“-Sequenz. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob gleich zwei Träume nacheinander folgen oder es ein Traum-im-Traum gibt.
Hier wieder „Téma milenci v texaskách“, diesmal ganz kurz zu einer Prügelei in „dutch angles“.
Hier die Nummer „Bosa Nova“: der Höhepunkt des Films in Sachen expressiver Licht- und Farbgebung.
Und hier noch die Schluss-Version von „Téma milenci v texaskách“.
Vorführstörungen: Die Vorführung ist auf technischer Ebene makellos. Einige Zuschauer liefern sich allerdings immer wieder ironische Lachwettbewerbe, bei denen es darum geht, wer jetzt am lautesten die stilisierten Musical-Momente verlacht. Gefühlsmäßig handelte es sich auf jeden Fall um zynisch-ironische Verlachung, und nicht um befreites Lachen. Traurig...
Die ganzen dämlichen Pannen bei den Projektionen im Murnau und teilweise auch das Verhalten mancher Zuschauer im Caligari ließen mich manchmal daran zweifeln, ob ich 2018 wirklich wieder zum goEast-Festival kommen möchte. STARCI NA CHMELU beseitigt diese Zweifel wieder. Es sind genau solche Filme, für die ich Jahr für Jahr nach Wiesbaden fahre. Es sind solche Filme, für die man diese Kunstform liebt. Es sind diese Filme, für die man das Leben liebt.


ab 17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

BEDNIEREBA / FELICITA: EIN VERGESSENER GEORGISCHER CUT VON GEORGE ROMEROS „DAWN OF THE DEAD“
Regie: Salomé Alexi / N.N.
Georgien 2009 / Deutschland 2017
ca. 5-10 Minuten, irgendeine ranzige DVD aus der digitalen Zombie-Hölle
Zu Beginn ist die ganze Welt gestaucht: ein Film im Format von 1.85:1 oder 1.78:1 wird anamorphisch auf 1.33:1 zusammen gestreckt, so dass alles länglich gequetscht ist. Hier ist auch die Apokalypse ausgebrochen, denn alle Farben sind völlig durcheinander. Die Menschen haben allesamt blaue Gesichter wie die Zombies in George Romeros DAWN OF THE DEAD.
Nach 5 bis 10 Minuten wurde dieses klägliche Spektakel schließlich abgebrochen. Es folgte die Ankündigung, dass eine alternative DVD irgendwo im Stadtzentrum geholt wird. Deshalb läuft erst einmal der Hauptfilm des Filmblocks.
Sprachlos...
Übrigens war die Regisseurin Salomé Alexi bei dieser Vermurksung einer versuchten Filmvorführung anwesend...

FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES
Regie: Jasmila Žbanić
Bosnien und Herzegowina 2013
75 Minuten, DCP
Die australische Schauspielerin Kym Vercoe (gespielt von Kym Vercoe selbst) reist während eines Sommers nach Višegrad, Bosnien-Herzegowina, auf den Spuren des Schriftstellers Ivo Andrić‘ und seiner „Brücke über die Drina“. Im Hotel beschleicht sie ein merkwürdiges Gefühl. Zurück in Australien findet sie heraus, dass ihre Unterkunft während der jugoslawischen Zerfallskriege als Massenvergewaltigungslager diente. Im Winter kehrt sie zurück, um mehr zu erfahren...
© goEast Filmfestival
FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist eine wahre Geschichte aus dem Leben der australischen Schauspielerin Kym Vercoe. Bei einem Besuch in Bosnien übernachtete sie in einem Hotel, in dem nichts darauf hinwies, dass vor ein paar Jahren dort über Hundert Frauen vergewaltigt und ermordet worden waren. Angeblich wurde das Hotel noch nicht einmal richtig renoviert. In enger Zusammenarbeit mit der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić entwickelte die Australierin daraus den Film (ihr künstlerischer Input als Initiatorin des Projekts, Autorin und Hauptdarstellerin war also wahrscheinlich nicht weniger bedeutend als Žbanić‘ Beitrag als Regisseurin).
In Deutschland ist man daran gewöhnt, dass jeglicher historischer Stoff in eine period-Kostüm-Schmonzette umgewandelt wird: die DDR gibt es dann in Grau-Braun, und die Nazi-Ära mit vielen bunten Hakenkreuzfahnen und schnittigen SS-Uniformen (und wehe da stimmt ein Knopf nicht! Dann melden sich die Leute zu Wort, von denen man annehmen kann, dass sie die Gestalten sind, die an Samstagen auf Provinzstadt-Flohmärkten bei den entsprechenden Ständen Landser-Memorabilia und -Literatur kaufen). Am Schluss solcher Historien-Schmonzetten haben alle was gelernt – meistens, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ganz schön schwer gelitten haben. Wer, wie Petzold mit PHOENIX, nicht darauf einstimmt, dem wird es richtig schwer gemacht. Und wer kein Gekröse zeigt, gilt als Feigling, der sich nicht traut, „Tabus“ zu „brechen“ (in diese Richtung gab es im Vorfeld zur Veröffentlichung von Fatih Akins THE CUT teils sehr merkwürdige Wortmeldungen).
In FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES gibt es absolut konsequent kein einziges Bild von den thematisierten Gewaltverbrechen zu sehen. Das hat nichts damit zu tun, dass Vercoe und Žbanić keine „Tabus brechen“ wollen. Das hat vielleicht ein bisschen mit Pietät zu tun. Das ist aber im Grunde auch eine sehr konsequente Art, die Abwesenheit von Erinnerung an Massenverbrechen zu filmen. Indem wir mit Vercoe zusammen nach und nach entdecken, was vor einigen Jahren in dem kleinen beschaulichen Städtchen mit der Brücke über die Drina geschehen ist, passiert etwas interessantes: sukzessive fängt der Zuschauer (wie Vercoe) an, sein eigenes Wissen mit den völlig „banalen“ und „trivialen“ Bildern der Stadt abzugleichen. Eine harmlose, idyllische Brücke, das schöne Kopfsteinpflaster auf dieser Brücke, ein Hotelkorridor, ein Hotelbett: das alles verwandelt sich nach und nach im Kopf des Zuschauers in „aufgeladene“ Erinnerungsorte.
Ohne mich (bisher!) mit Claude Lanzmanns Dokumentarfilmen auszukennen, so dürften Vercoe und Žbanić einige von dessen Ansätzen in die Form eines fiktional-narrativen Spielfilms übertragen haben: kein „Archivmaterial“ (hier wären das wohl: Rückblenden mit simulierter Gewalt), sondern nur heutige Befragungen von (hier: gespielten) Zeugen an den Orten des Verbrechens. Wie unsicher und tastend Vercoe die Orte des Verbrechens erkundet, so ist auch sie selbst ihrer gesamten Handlungsweise unsicher. Hat sie zum Beispiel das Recht, den angelsächsischen Touristenführer Tim Clancy, der seit Jahren in Bosnien lebt und arbeitet, suggestiv zu fragen, warum er die Verbrechen in seinen Reiseführern nicht erwähnt? Und was kann sie eigentlich, als einfache australische Touristin, die sich noch nicht mal richtig mit dem Land auskennt, da wirklich ausrichten? Soll sie sich „einmischen“, wenn selbst ihr Umfeld in Australien (Mutter, Partner, Freunde) ihr ständig sagt, dass sie das jetzt mal sein lassen soll? Antworten gibt es keine, sondern hauptsächlich nur Fragen. Vercoe verabschiedet sich schließlich mit einer kleinen persönlichen, symbolischen Gedenkggeste, die in nicht einmal einer Minute von der Hotelputzfrau weggeräumt werden dürfte, aber im Kopf des Zuschauers noch lange nachhallt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Ansatz im Bereich des Spielfilms (und FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist von A bis Z wie ein Spielfilm gefilmt) bislang völlig ungeprobt geblieben ist. Falls nein, dann Chapeau, Kym Vercoe und Jasmila Žbanić. Falls ja – dann auch trotzdem Chapeau, Kym Vercoe und Jasmila Žbanić!

BEDNIEREBA / FELICITA
Regie: Salomé Alexi
Georgien 2009
30 Minuten, irgendeine CD oder DVD mit mieser Bildqualität
In einem georgischen Bergdorf stirbt ein Mann bei einem Autounfall. Die Ehefrau befindet sich in Italien, um ihre Familie finanziell zu versorgen, kann leider nicht spontan in die Heimat fliegen und schaltet sich per Telefon der Trauerfeier zu...
© goEast Filmfestival
Über Salomé Alexi schrieb ich schon 2015, als ich ihre wunderbare Schicksalsmaschine-Horrorfilm-Komödie KREDITIS LIMITI in meinem goEast-Festivalbericht besprach. Jetzt fand ich heraus, dass sie die Tochter von Lana und die Enkelin von Nutsa Gogoberidze ist: also die „dritte Gogoberidze“ einer ganzen Filmemacherinnen-Dynastie (Alexi heißt sie, weil sie den Nachnamen ihres Vaters, des 1978 verstorbenen Ehemanns Lanas, trägt).
BEDNIEREBA / FELICITA lässt keinen Zweifel daran, dass hier die Regisseurin von KREDITIS LIMITI am Werk ist: lange, fixe, minutiös kadrierte Tableaus mit einem extrem guten Blick für Raumkompositionen, ein ätzender, schwarzer und trotzdem humanistischer Humor, ein großes Gespür für die Absurditäten des Lebens, eine aktive, sich kümmernde weibliche Hauptfigur (hier allerdings nur hörbar, aber unsichtbar). Ob der Film vielleicht ein Tick zu lang ist, kann ich schwer sagen: die ständigen Pannen bei den Vorführungen steigern nicht gerade die Konzentration. Auf jeden Fall ist er sehr sehenswert.
Bei dem Q & A verriet Alexi, dass die starren Tableaus aus finanziellen Überlegungen heraus entstanden: das Geld reichte nur für ein Stativ, nicht für Dollies. Den Film hat Alexi komplett selbst aus eigener Kasse und mit Anleihen bei Freunden und Verwandten produziert, und gedreht wurde mit Laiendarstellern. Ihrer Meinung nach ein fantastischer Dreh: die Dorfbewohner hatten kein Problem mit langen Drehpausen, weil sie im Zweifelsfall 30 Meter weiter kurz nach Hause gehen konnten, oder aber einfach geduldig sitzen blieben, plauderten, entspannt eine rauchten.
Wie FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist auch BEDNIEREBA / FELICITA ein Film über Abwesenheit: hier nicht von Erinnerungszeichen, sondern von erwachsenen Frauen in wirtschaftlich benachteiligten Dörfern. Ein Bild von Arbeitsmigration vom anderen Ende her betrachtet – und was Alexi zu sagen hat, ist nicht schmeichelhaft: Rentnerinnen und Rentner, arbeitslose Frauen und Männer, die, wenn die Telefonverbindung gerade wieder gestört ist, hemmungslos über die „Italienerin“ lästern, die „ihr“ Dorf im Stich lässt und es sich in Italien gut gehen lässt – obwohl gerade sie mit ihrem Einkommen das halbe Dorf unterhält. Die Kinder des Dorfes (aber auch der sympathische Bruder des Verstorbenen) lassen trotzdem Hoffnung, dass hier nicht alles in Niederträchtigkeit versinkt.
Vorführstörungen: Nach dem ersten vermurksten Versuch, den Film zu projizieren, klappte es beim zweiten Mal etwas besser. Richtiges Bildformat, annehmbare Farben. Trotzdem war es eine fürchterliche digitale Kopie (gefühlt eine kaum 100MB große Datei auf einer CD): extrem krisselig und voller weißer Pixelartefakte auf den etwas dunkleren Farbflächen. Da die Figuren alle in Trauer Schwarz tragen, war das sehr auffällig. Die Frage, ob der Look des Films tatsächlich „gritty“ sein sollte (oder das doch die Projektion war) verneinte Alexi beim Q & A vehement: das Bild, aufgenommen mit einer hochqualitativen digitalen Kamera, sollte eigentlich absolut sauber, scharf und heller sein. Auch wenn sie es höflich ausdrückte (ich glaube, bei Agnieszka Holland wären Köpfe gerollt – dazu aber später mehr): Alexi war über die Projektion sehr verärgert.


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

CIPKA („Pussy“)
Regie: Renata Gąsiorowska
Polen 2016
8 Minuten, DCP
Eine junge Frau möchte es sich in ihrer Wohnung gemütlich machen und sich selbst befriedigen. Nach allerlei Störungen verwandelt sich ihr Geschlecht dann auch noch in einen kleinen Käfer, der ihr wegrennt und den sie erst wieder fangen muss, bevor sie endlich zur Sache kommen kann.
Ein kurzer Animationsfilm, der wahrscheinlich am gleichen Tag in Jena auf dem cellu l‘art-Kurzfilmfestival lief und dort den Preis des besten Films im Bereich Experimental, Animation, Dokumentation gewann. Ein kurzweiliger, charmanter Film – eher verspielt-witzig als wirklich provokativ, auch wenn ich das für das Polen der PiS-Ära nicht mit Sicherheit sagen kann.

HRA O JABLKO („Spiel um den Apfel“)
Regie: Věra Chytilová
ČSSR 1977
92 Minuten, 35mm
Dr. John (gespielt von Jiří Menzel, wie Chytilová selbst eine zentrale Figur der Tschechoslowakischen Neuen Welle) ist Arzt auf einer Entbindungsstation und ein kleiner Don Juan. Er hat mehrere Liebhaberinnen und bandelt dann auch rasch mit der neuen Schwester Anna an. Bald wird es für ihn schwierig, seine Arbeit und seine ganzen Liebschaften zu koordinieren.
© goEast Filmfestival
Im Vorspann treibt sich die Kamera durch einen Garten – vielleicht der Garten Edens? Denn da ist auch ein Apfelbaum. Wild und nervös fährt sie auf die Äpfel zu, zoomt rein. Äpfel, Äpfel, Äpfel. Dann filmt sie auch die Äpfel, die heruntergefallen sind und im Gras liegen. Einige davon sind noch schön, andere sind schon lädiert und einige Exemplare sind bereits verfault. Ohne zur Ruhe zu kommen (HRA O JABLKO ist über weite Strecken mit einer extrem mobilen Handkamera gefilmt, die kaum jemals still steht) geht es weiter in die Entbindungsstation und da geht alles drunter und drüber: schreiende Hochschwangere, gestresste Ärzte, eilig umherlaufende Schwestern, Schweiß, Blut, kreischende Neugeborene. Keine Ruhe für die etwa 10 nächsten Minuten. Die Kamera tobt durch das Krankenhaus. Die fragmentierte, elliptische Montage ist nicht an logische Zusammenhänge interessiert, sondern an emotionaler Wucht. Blutige dokumentarische Bilder von Geburten werden mit Essensszenen aus der Kantine und weißen Mäusen (aus dem Versuchslabor im Krankenhaus?) zusammengeschnitten. Kurz: Chytilová kennt keine Gnade und macht keine Gefangene. Eine unglaubliche tour-de-force eines Filmanfangs.
So etwas wie Ruhe kehrt zum ersten Mal ein, als wir das Krankenhaus verlassen. Am verhältnismäßig ruhigsten ist es dann, wenn nur zwei Figuren in einem Raum sind – zumindest, solange keiner der beiden am Rande des Nervenzusammenbruchs oder des hysterischen Anfalls ist und das sind die Figuren HRA O JABLKO meist dann nicht, wenn sie gerade scharf auf Sex sind. Geilheit und hysterische Nervenanspannung: die zwei Grundzustände, in der sich die Charaktere – ob nüchtern oder schon angetrunken – im Film alternativ befinden. Nach und nach schält sich heraus, dass Dr. John die Hauptfigur sein soll, der eine Affäre mit der Ehefrau eines Arztkollegen hat und gleichzeitig die neue Schwester Anna anflirtet. Aber das stellt sich nur nach und nach heraus, weil HRA O JABLKO praktisch vollkommen frei von jeglicher Exposition ist und weil Chytilová sehr „demokratisch“ inszeniert: in diesem extrem dichten Film passiert unglaublich vieles – aber eine Wertung, was „wichtig“ ist und was nicht, gibt es nicht. Wenn Dr. John mit einer seiner Liebhaberinnen in seine Stammkneipe geht, dann lauschen wir nicht ihrem Gespräch: die Kamera wendet sich der Kabarettnummer zu, mit einer Barpianistin und einer leicht bekleideten Sängerin-Tänzerin. Im Krankenhaus spitzt sich diese Methode zu: flirtende Andeutungen und hoffnungsvolle Blicke, der Zustand der Hochschwangeren im Nebenraum sowie Personalfragen und das Abarbeiten von Monatsberichten prasseln fast gleichzeitig auf den Zuschauer ein.
HRA O JABLKO ist im Grunde eine einfache Screwball-Komödie, bloß ist das Tempo hier noch mal drei mal höher als bei den Hawks-Klassikern. Es ist ein absolut überwältigender Film, aber nicht im Sinne der tyrannischen Perfektion eines Kubricks, sondern aufgrund seiner „rohen“ und „ungeschliffenen“ Energie. Großartig!
HRA O JABLKO wurde, gemäß der Dame, die den Film vor der Projektion präsentierte, kurz nach Erscheinen verboten. Doch Chytilová wußte, wie sie sich für den Film einsetzen konnte. Ein hochrangiges Mitglied der tschechoslowakischen Filmkontrollkommission (der zufällig auch ein hochrangiger Armeeoffizier war) hatte sich kurz vor der Genehmigung des Filmdrehs für Chytilová eingesetzt und seine Intervention war maßgeblich dafür, dass sie den Film in Angriff nehmen konnte. Als der fertige Film kontrolliert wurde, setzte er sich für einen Kompromiss ein, um ein Verbot zu verhindern: Chytilová kürzte die blutigen dokumentarischen Bilder von Geburten und Kaiserschnittoperationen um einige Sekunden (Ausschnitte sind immer noch im fertigen Film erhalten). Als HRA O JABLKO kurz nach dem Erscheinen dann trotzdem noch verboten wurde, fuhr sie direkt zum Aufenthaltsort ihres Helfers hin (zu diesem Zeitpunkt der Anekdote nach eine ländliche Alkoholentzugsklinik) und appellierte an ihn: vom Film sprach sie überhaupt nicht, sondern davon, dass das Verbot ein Affront gegen seine Autorität sei. Er sei für die Veröffentlichung des Films verantwortlich, und wenn jetzt HRA O JABLKO verboten wird, dann würde er ja total lächerlich da stehen. Ein überzeugendes Argument: der hochrangige Beamte (ob trocken oder betrunken) fuhr sogleich nach Prag und machte da solange an passender Stelle Radau, bis der Film wieder in die Kinos genommen wurde. Egal, ob diese Anekdote nun stimmt, sie enthält sicher auch ein Körnchen Wahrheit. Erstens waren solcherlei Fälle von Kompetenz- und Verantwortungsgerangel für realsozialistische Staaten nicht untypisch. Zweitens passt die Geschichte zu Chytilová: wenn sie geschlagen wurde, verkroch sie sich nicht weinend in die Ecke, sondern schlug mit den Waffen ihres Gegners zurück.
Vorführstörungen: die Kadrierung des Bildes wurde bei zwei Filmrollen vermurkst und es war unten ein relativ breiter schwarzer Streifen zu sehen. Da die Kopie keine Untertitel hatte, wurden diese live mit einem Beamer projiziert, doch die Person, die sich kümmern sollte, war nicht da. Eine junge Dame mit guten Tschechisch-Kenntnissen, die eigentlich nur als einfache Zuschauerin den Film sehen wollte, opferte sich für diese Aufgabe. Sie war offensichtlich und verständlicherweise überfordert, weil sie HRA O JABLKO wahrscheinlich zum ersten Mal sah und es sich um einen Film handelt, in dem manchmal drei und mehr Personen gleichzeitig und extrem schnell sprechen. Des weiteren war die alte russische Filmregisseurin wieder in einer mitteilungsseligen Stimmung und blabberte die ganze Zeit. Flankiert wurde sie von einem jungen Mann, der in ihrer Nähe saß und ebenfalls die ganze Zeit vor sich her quasselte oder demonstrativ laut lachte (wenn er nicht gerade – ebenso demonstrativ laut – hustete und schniefte). Beide Störer machten sich Konkurrenz und stachelten sich gegenseitig regelrecht an.


ab 22.15 Uhr, Murnau-Filmtheater

WIR LASSEN UNS SCHEIDEN
Regie: Ingrid Reschke
DDR 1968
90 Minuten, 35mm
Die Ehepartner Koch haben gerade eine Ehekrise. Er zieht aus und fängt an, mit der Musiklehrerin des Sohnes anzubandeln. Sie hingegen lernt einen Architekten kennen, der am Bau des Fernsehturms am Alexanderplatz mitwirkt. Zwischendurch streiten sich die beiden Ehepartner darüber, wer jetzt mit der Erziehung des Sohns dran ist. Und schließlich kommen sie sich wieder näher.
Vielleicht war es unfair, diese Ehekomödie nach Chytilovás HRA O JABLKO zu zeigen, der ziemlich viele Filme im direkten Vergleich altbacken und bieder aussehen lässt, aber WIR LASSEN UNS SCHEIDEN war dann doch ein kleiner Tiefpunkt des Festivals. Filmhistorisch ist er nicht uninteressant: es war einer der Filme, die nach dem „Kahlschlag-Plenum“ produziert wurden, als es darum ging, in kurzer Zeit wieder die ostdeutsche Filmindustrie anzukurbeln und die Kinos mit lokalen Produktionen zu versorgen – wobei narrative und ästhetische Experimente (vorerst!) wieder out waren. WIR LASSEN UNS SCHEIDEN war auch ein Film, der eine Art „konservative“ Wende in der Familienpolitik der DDR begleiten sollte: das Scheidungsrecht wurde belassen, doch die Scheidungsrate sollte trotzdem nach unten gedrückt werden. Das macht den Film filmhistorisch irgendwie auch wieder interessant: denn wenn die Frau nicht arbeiten würde, könnte man man ihn glatt für eine bundesdeutsche Ehekomödie halten. Am Ende ist die Kernfamilie wieder glücklich und einträchtig vereint und die „traditionellen, bürgerlichen Familienwerte“ wurden geschützt. Dass die Ehefrau arbeitet, wird aber nicht trotzdem zu keinem Zeitpunkt zur Disposition gestellt.
Handwerklich ist WIR LASSEN UNS SCHEIDEN gut gemacht, aber eben auch recht beliebig. Das Drehbuch ist Stangenware: jegliche Wendung kann man etwa 50 Meter gegen den Wind riechen. Und der Humor war absolut nicht meins: Wenn Papa sich mit Sohnemann über einen fast zwei Meter breiten Bogen Papier beugt, auf dem detailliert die gemeinsamen Wochenendaktivitäten geplant sind, dann ist das meiner Meinung nach wirklich zu grob gestickt. Gemäß der Dame, die den Film vor der Vorführung einführte, war für die Rolle des Vaters, besetzt vom eher (man könnte fragen: passenderweise?) farblosen Dieter Wien, ursprünglich Armin Mueller-Stahl vorgesehen, der wegen Krankheit allerdings kurzfristig absagen musste. Ob er den Film gerettet hätte, wage ich trotzdem zu bezweifeln.
Vorführstörungen: Etwa in der Mitte des Films schiebt sich plötzlich ein schwarzes Rechteck unten links in das Bild. Wenn da mal nicht schöne Erinnerungen an das „Bonusprogramm“ des letzten Jahres wach werden? Jedenfalls bleibt die schwarze Störstelle auch für die nächsten paar Minuten im Bild. Entnervt gehe ich zur Kasse, um Bescheid zu geben (und hole mir bei der Gelegenheit gleich ein „Frust“-Bier). Ohne weitere Erklärung wird mir nach etwa zwei Minuten gesagt, dass das Problem gelöst sei. Des weiteren wurde WIR LASSEN UNS SCHEIDEN ohne Untertitel gezeigt. Für Zuschauer, die Deutsch nicht fließend verstehen, gibt es deshalb über Kopfhörer eine Simultanübersetzung. Darum brabbelt die alte russische Regisseurin bei diesem Film besonders laut vor sich hin, damit sie sich selbst durch die Kopfhörer hören kann.


ab 00.00 Uhr, Schlachthof Wiesbaden
goEast-Party mit DJ Malalata und DJ Janeck – und einem kurzen informellen Regisseursgespräch

Auf der traditionellen goEast-Party am Freitag-Abend im Schlachthof (etwa 200 Meter vom Murnau-Kino entfernt) möchte ich bis 01.00 Uhr etwas verweilen, bevor ich einen Freund am Bahnhof abholen werde. In einem Nebenraum wird Frei-Wodka ausgeschenkt. Es ist relativ voll. Auf einmal sehe ich einen Mann, der mir bekannt vorkommt, weil ich ihn im Festivalkatalog gesehen habe. Nach einigem Zögern spreche ich ihn an. Ob er Englisch spricht (ja). Ob er zufälligerweise ein Regisseur aus Rumänien ist (ja). Ob er Adrian Sitaru ist (ja). Ich sage ihm, wie fantastisch ich seinen Film DOMESTIC finde, den ich 2013 beim Festival sah. Wie großartig gefilmt die lange Plansequenz ist, in dem das kleine Mädchen das Huhn in der heimischen Badewanne schlachtet. Wie traurig es ist, dass ich seinen neuen Film FIXEUR wegen terminlichen Unpässlichkeiten verpasst habe und ausgerechnet dieser Film im Presseraum nicht läuft. Wir plaudern noch fünf Minuten. Er gibt mir seine Mail-Adresse und meint, dass er mir eventuell den Film über einen Link geben könne. Wir verabschieden uns. Er geht zur Bar, um sich ein neues Bier zu holen. Ich gehe hinaus in Richtung Bahnhof...


In Teil 2 meines Festivalberichts, der in Kürze hier erscheinen wird, geht es unter anderem um Mészáros Márta, um Frauenknastfilme aus dem realsozialistischen Bulgarien und um die wichtige Frage, warum Agnieszka Holland eigentlich Jean-Marie Le Pen nicht getötet hat...

Samstag, 15. April 2017

Weltrevolution mit Frauen, Indigenen, Chinesen, Marsmenschen und Mary Pickford

Frühe sowjetische Animationsfilme von Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva, Zenon Komissarenko und Co.

Beim Stichwort „Animationsfilm“ dürften viele zuerst an Walt Disney denken und an seine fantastischen, eskapistischen Bilderwelten, die ab den 1920er Jahren die Leinwände der USA, dann der Welt eroberten. Nun... Animationsfilme gab es in den 1920ern auch jenseits des damals noch nicht so benannten Eisernen Vorhangs. Dort dienten sie nicht immer nur der reinen Unterhaltung, sondern waren auch ein Mittel, um die sozialistische Weltrevolution voranzutreiben – gegebenenfalls bis ins Weltall.

Einer der Pioniere des sowjetischen Animationskinos war Nikolaj Chodataev, der zwischen 1924 und den frühen 1930er Jahren an mehreren Kurzfilmen beteiligt war. Ich sage „beteiligt war“, weil er mit einer größeren Gruppe von anderen Künstlern (darunter auch mit seiner Schwester Ol‘ga Chodataeva) Filme konzipierte und inszenierte – und zumindest bei den ersten seiner beiden offiziellen (und jeweils mit zwei anderen Filmemachern geteilten) Regie-Credits vielleicht nicht die zentrale kreative Kraft war.

Mehr zu Nikolaj Chodataev und den anderen sowjetischen Animationspionieren später. Jetzt gleich zum ersten Film – mit einer sozialistischen Revolution auf dem Planeten Mars!



MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA [„Interplanetäre Revolution“]
Sowjetunion 1924
Regie: Nikolaj Chodataev, Zenon Komissarenko, Jurij Merkulov
Animation: Ol‘ga Chodataeva

„Eine Geschichte darüber, wie der Krieger Kominternov gen Mars flog und dort alle Bourgeois auseinanderjagte.“ So kündigt eine Texttafel zu Beginn dieses 8-minütigen Films das Kommende an. Das ist auch gut so, denn nur aufgrund des wüsten Bildreigens, der dann folgt, wäre es relativ schwierig zu wissen, was in MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA eigentlich passiert.
Der angekündigte Rotarmist Kominternov, der wie ein kräftig-gesunder russischer Bauernjunge aussieht und eine Budjonowka mit Stern trägt, wird also eingeblendet. Dann folgen einige böse Bourgeois-Kapitalisten mit fiesen, grotesken Gesichtern, teils sogar tierischen Fratzen, die Hakenkreuze im Kopf oder gar auf der Stirn tragen und gefesselte Arbeiter wortwörtlich, wie Vampire, aussaugen.
Moment! Hakenkreuze? Das wirkt in einem sowjetischen Film der frühen 1920er Jahre höchst bizarr, da dieses Symbol heutzutage in erster Linie mit den Nationalsozialisten assoziiert wird. 1924 war die NSDAP jedoch eine verbotene Partei, die nach dem Hitlerputsch zunächst ein Randdasein fristete und sowjetische Filmemacher in dieser Zeit kaum interessiert hätte. Ein Kommentator bei einer der vielen youtube-Videos des Films meinte, dass diese möglicherweise bei einer späteren Aufführung des Films in den 1930er Jahren nachträglich hinzugefügt worden seien. Keine vollkommen abwegige Idee, aber erstens ist MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA ein Film, der mit seiner Ästhetik höchstwahrscheinlich nicht in der sozialistisch-realistischen Ära Stalins gezeigt wurde, und zweitens gibt es eine andere Erklärung: Die Swastika war tatsächlich ein Symbol, das auch im späten Russischen Reich und in den Anfängen der Russischen Revolution benutzt wurde. Es war das Lieblingssymbol der letzten Zarengattin, Aleksandra Fёdorovna, die 1918 zusammen mit Nikolaj II. und anderen Mitgliedern der gefallenen Herrscherfamilie von den Bolschewiki hingerichtet wurde. Während der Revolutions- und Bürgerkriegsjahre nutzten Monarchisten, in Ehrung der Zarengattin, dieses Symbol. Das Hakenkreuz wurde in Russland nach der Februarrevolution tatsächlich aber auch als Symbol von der Provisorischen Regierung genutzt, und zwar für ihre Geldscheine. Das Zeichen, das eigentlich ja ein Glückssymbol ist, sollte das Versprechen eines glücklichen Lebens in einer neuen revolutionären Ära markieren. Die Provisorische Regierung selbst hatte kein Glück und wurde im Oktober 1917 von den Bolschewiki hinweg geputscht. (Die Banknoten mit der Swastika waren wesentlich langlebiger als die Provisorische Regierung: diese Geldscheine waren auch in Sowjetrussland im Umlauf, weil sich die Währungsreform der Bolschewiki verzögerte – die Noten wurden bis zur Reform im Mai 1919 weiterhin gedruckt, jedoch mit einer veränderten Signatur, und blieben bis 1922 im Umlauf, wie man hier auf dieser russischen Seite zur Geschichte russischer Münzen und Banknoten lesen kann.) Oder um es einfach mal kurz zu sagen: 1924 brauchte man in der Sowjetunion noch keine deutschen Nazis, um Hakenkreuze und verhasste kapitalistische Bourgeois in einen Zusammenhang zu bringen.
Nebst den Hakenkreuzen tragen die grässlichen Bourgeois auch Hüte mit vielen kleinen Sternchen, was wohl die US-amerikanische Flagge repräsentieren soll. Ein Halbmond ist auch zu sehen (also die Osmanen bzw. Türken) und Eiserne Kreuze (die Deutschen) ebenfalls. Eine der karikaturenhaften Figuren ist eindeutig als Wilhelm II. zu erkennen, der zu dem Zeitpunkt schon im niederländischen Exil weilte. Ein sehr bunter Haufen an antisowjetischen Figuren also – paradoxerweise schienen die Macher von MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA extrem viel Spaß daran gehabt zu haben, diese zu kreieren, und tatsächlich sieht man mehr von den grotesken Fratzen als von den heldenhaften Rotarmisten.
So schrecklich diese interplanetarischen Böswatze auf dem Mars auch sind, so schnell bekommen sie beim Anblick einer Pravda-Schlagzeile Angst. Und nachdem die Rotarmisten mit der Rakete zum Mars geflogen sind, bekommen die Bösewichte gehörig was auf die Schnauze: wie in einem Horrorfilm, der fünfzig Jahre später hätte entstehen können, springt ein phantomartiger Rotarmist aus dem Spiegel und reisst einen Kapitalisten-Bösewicht mit sich fort. Wie in STAR WARS gibt es Scharmützel mit Laser- bzw. Blitzpistolen – oder zumindest sieht es so aus. Im letzten Drittel wird der Kampf wirklich turbulent, und es wird sehr schwierig, der „Handlung“ überhaupt noch zu folgen. Die Kapitalisten bekommen von den Rotarmisten eins über den Schädel gezogen, aber zwischendurch gibt es noch ein mysteriöses, mehrgliedriges, bärtiges Wesen – Gott? Und aus den Augen eines Planeten erwachsen eine Frau (mit recht üppigem Busen) und ein Mann, die sich küssen (?), dabei eine Blase in Herzform bilden, die dann platzt und Kinder herausfallen lässt (?) – was den Rotarmisten peinlich geniert. Zwischendurch gibt es dann diesen zärtlich-poetischen Moment, als ein Rotarmist einigen Sternen beim Tanzen zusieht, sich einen greift und an seine Mütze heftet... Jedenfalls scheinen am Ende die Kommunisten auf dem Mars zu siegen und telegrafieren ihren Sieg sogleich nach Moskau – im Hintergrund erscheint Lenins Geist als stroboskop-artiger Effekt.
Kommunisten bringen die sozialistische Revolution bis zum Mars – was wie sowjetische Propaganda nach Schema F klingt, ist ein wirklich wild-wüster Bilderreigen, der sich nur rudimentär für narrative Konsistenz interessiert und dem vielmehr an der puren Verbildlichung revolutionärer Zersetzung liegt. Dem Dadaismus und Surrealismus ist MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA jedenfalls näher als dem sozialistischen Realismus. Die grotesken Fratzen mit den Kiefern, die wie Uhrwerke mahlen, erinnerten mich etwas an die (weit über 40 Jahre später) entstandenen Animationsarbeiten von Terry Gilliam für Monty Python – auch wenn ein direkter Einfluss mit relativ großer Sicherheit auszuschließen ist.

MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war ein unabhängig produzierter Film. De-facto-Produzent war Nikolaj Chodataev, der hier sein privates Vermögen investierte, um zusammen mit Zenon Komissarenko und Jurij Merkulov einen ambitionierten Film zu drehen. Letzterer sagte über MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA folgendes:

„The battling rocket squadrons and the flight into the starry cosmos all seemed to us the most surpisingly beautiful, merry and witty spectacle. Amazed and stunned, we laughed happily, rolling around the floor, waving our legs in the dark, empty room. We fancied ourselves as the Columbuses of animation.“

Jetzt habe ich erneut von den Filmemachern gesprochen. Also sollte ich sie mal vorstellen: 
Nikolaj Chodataev wurde 1892 in Rostow-am-Don geboren. Er schloss 1918 in Moskau ein Studium an der Hochschule für Malerei, Skulptur und Architektur ab und arbeitete danach in einer Kommission für Denkmalschutz. Darüber, wie Denkmalschutz in der Bürgerkriegsära (1917-1922) funktionierte, kann ich ohne größere Recherche erst einmal nichts sagen. Nach anderen Angaben war Chodataev Absolvent der Moskauer Künstlerisch-Technischen Werkstätten (Vchumetas) – diese Kunsthochschule war in den frühen 1920er Jahren das Zentrum der künstlerischen Avantgarde in der Sowjetunion, und zog Vergleiche mit dem Bauhaus in Deutschland nach sich. Unabhängig von der biographischen Version kam Chodataev jedenfalls weder vom Spiel- oder Dokumentarfilm, noch vom Theater, sondern von der bildenden und plastischen Kunst. MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war sein erstes Filmprojekt. Offenbar äußerte sich Chodataev während seiner ganzen Arbeitsphase als Filmemacher selbstkritisch und voller Selbstzweifel über seine Werke: er hatte immer das Gefühl, dass seine Ambitionen größer als die schlussendlichen Resultate waren. Einer seiner letzten Filme, ORGANČIK (siehe unten) wurde 1933 wenig beachtet und wenn, dann verrissen. Sein letzter Film, „Puschkins neues Zuhause“ (der nicht bei IMDb oder beim russischen Animations-Wiki zu finden ist, sondern nur in Giannalberto Bendazzis Buch Animation: A World History. Volume I: Foundations – The Golden Age erwähnt wird, aber ohne russischen Originaltitel) wurde verboten, und dieses frustrierende Erlebnis führte endgültig dazu, dass Chodataev sich vom Film zurückzog (ausgenommen eine Beteiligung an KINOCIRK 1942 als Zeichner) und bis zu seinem Tod 1979 nur noch als Maler und Bildhauer tätig war. In einem Dokumentarfilm wird berichtet, dass Chodataev ein großer Spezialist für Frauenportraits war und sehr viele Portraits seiner Ehefrau malte.

Über Ol‘ga Chodataeva, die 1894 in Moskau geborene jüngere Schwester Nikolajs, ist wenig überliefert. Auch sie absolvierte einen künstlerischen Studiengang und arbeitete zunächst in den frühen 1920er Jahren als Grafikdesignerin. MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war auch ihr erster Film. Bis Ende der 1920er Jahre arbeitete sie mit ihrem Bruder zusammen bei weiteren Filmen. Im Gegensatz zu ihm blieb sie dem Animationskino jedoch erhalten und führte bis in die späten 1950er Jahre für etwa zwei Dutzend weitere Animationskurzfilme Regie bzw. Co-Regie. Wenn sie keine Kinofilme drehte, inszenierte sie kurze Animationsfilme, die integraler Bestandteil von Aufführungen in einem Moskauer Kindertheater waren. Ol‘ga Chodataeva starb 1968 in der Hauptstadt.

Der dritte genannte Beteiligte an MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war Zenon Komissarenko, geborten 1891 in Simferopol‘ auf der Krim. Auch er kam wie Chodataev von der bildenden und plastischen Kunst. Mehrere russische Quellen bezeichnen ihn als Schüler des Avantgardekünstlers Kazimir Malevič. Anderswo wird er als Absolvent der oben genannten Moskauer Künstlerisch-Technischen Werkstätten (Vchumetas) bezeichnet, mit Spezialisierung auf Bildhauerei. Welcher Version man auch glauben mag, gilt auch für ihn, dass er kein „cinematographic native“ war und auch nicht vom Theater kam. Gemäß Bendazzi war Komissarenko der Künstler, der im Science-Fiction-Film AĖLITA von 1924 für einige Szenen Stop-Motion-Spezialeffekte erschuf und später den befreundeten Chodataev dazu ermunterte, mit ihm einen eigenen Film zu drehen. Ėduard Nazarov, selbst ein Animationsfilmer einer späteren Generation (Jahrgang 1941), berichtet in einem Dokumentarfilm eine andere Geschichte: für AĖLITA wurde seitens der Produktion die Realisierung von Spezialeffekten ausgeschrieben; Chodataev bewarb sich zusammen mit seinen Freunden Komissarenko und Jurij Merkulov, doch deren Vorschläge wurden nicht ausgewählt. In Reaktion darauf machte sich das Trio auf, ein eigenes Filmprojekt, nämlich MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA, eigenständig zu realisieren (sehr verwirrend ist, dass Nazarov kaum eine Viertelstunde später berichtet, dass Komissarenko sehr wohl bei AĖLITA mitwirkte – was soll denn nun stimmen?). Nach dem nächsten gemeinsam Film, KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!), trennten sich die beruflichen Wege Kommissarenkos und Chodataevs. Von 1928 bis 1933 arbeitete Kommissarenko in der Filmabteilung der Roten Armee und inszenierte dort Lehrfilme (mit Titeln wie „Lerne, ins Ziel zu schießen“, „Das russische Gewehr“, „Das Maxim-Gewehr“, „Das U-Boot“, „Taktischer Angriff“, „Feldaufklärung“,). In den 1930er Jahren wandte sich Komissarenko vom Filmemachen ab und wieder der Malerei und plastischen Kunst zu (darunter auch der Gestaltung farbiger Fensterfronten). Einige seiner Gemälde wurden sogar im Westen, in Paris ausgestellt – ein französischer Kunsthistoriker lobte sie als ausdrucksstarke, abstrakte Malerei. Die Faszination für das Kosmische versiegte nicht mit MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA: Kommissarenko gab seinen Gemälden gerne Titel wie „Universum“, „Venus“, „Milchstraße“. In dem Dokumentarfilm mit Ėduard Nazarov sind einige seiner Bilder bzw. Ausschnitte davon zu sehen. Ich kenne mich mit moderner Malerei nicht besonders aus, würde aber sagen, dass es in Richtung Abstrakter Expressionismus geht. Trotzdem er keine Filme mehr drehte, verbrachte der Animationspionier seine letzten Jahre in einem Altersheim für ehemalige Filmkünstler und verstarb dort 1980 (also mit etwa 89 Jahren).

Über den vierten Beteiligten, Jurij Merkulov, habe ich leider keine Informationen gefunden.



KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) [„China brennt (Finger weg von China!)“]
Sowjetunion 1925
Regie: Nikolaj Chodataev, Zenon Komissarenko, Jurij Merkulov
Animation: Ljudmila Blatova, Valentina Brumberg, Zinaida Brumberg, Ivan Ivanov-Vano, Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva, Zenon Komissarenko, Jurij Merkulov

Teil 1
Ein grässlich entstellter, grotesker Uncle Sam frisst Indien, Afrika, Australien, Java und den Kopf eines deutschen Lakaien auf. Auf der Suche nach weiterer Nahrung findet er China – ein Land mit hohem „Nährwert“ (heißt: vielen Rohstoffen). Durch ein Spalt in der großen chinesischen Mauer schleicht er sich in das Land. Im Prinzip kommt er schon relativ spät, denn wenig später erfahren wir, dass amerikanische, japanische, englische und französische Kapitalisten (weitere entsetzlich verzerrte Fratzen folgen) zumindest die europäischen Viertel schon unter Kontrolle haben. Ein Hinweis besagt, dass ein Viertel der Weltbevölkerung in China lebt. Einige weitere Informationen über China folgen – und ein Zwischentitel informiert die Zuschauer, dass eine Nationale Befreiungsbewegung darauf zielt, Imperialisten aus China zu verweisen. So was lassen sich die Imperialisten, die zumal auch mit schlangenartigen Missionaren verbandelt sind, nicht gefallen und bombardieren das Land.

Teil 2
In einigen Tableaus sehen wir nun Reisbauern, die sorgfältig Setzlinge einpflanzen. Die amerikanischen Imperialisten sind nun nicht mehr da, dafür aber die Grundbesitzer, ihre Verwalter, ihre Steuereintreiber sowie Bewässerungskontrolleure, die unfähig sind und auf ihrer Arbeit einschlafen. Ein neuer Damm lässt die persönlichen Parzellen der Bauern austrocknen. Als sich die Bauern beschweren, werden sie niedergeschossen. Oder vom Grundbesitzer enteignet und ausgeraubt. 

Teil 3
Falls bis hier irgendjemand den bösen Uncle Sam vergessen haben sollte: jetzt ist er wieder da! Ihm und seinen gemeinen Verbündeten vergeht bald das Lachen, als die chinesischen Bahnarbeiter zu streiken beginnen und politische Versammlungen abhalten. Sie werden dafür niedergeschossen. Mit einer Sache haben die schurkischen Imperialisten allerdings nicht gerechnet: Moskau! Die Strahlkraft, die von der Hauptstadt der Weltrevolution ausgeht, verdreht ihnen gar ihre tierischen Fratzen. Es kommt zu einem Abkommen zwischen China und der Sowjetunion, chinesische Studenten demonstrieren für eine Anerkennung der UdSSR und das Land bekommt dann auch ein Botschaftsgebäude. Sun Yat-sen, der Anführer der chinesischen nationalen Revolution, wird kurz erwähnt. Am Ende gibt es wieder ein Lenin-Bild und ein Lenin-Zitat (scheinbar eine gute Lösung für alle genannten Probleme) und chinesische Hände, die sich gegenüber einem kommunistischen Emblem erheben. Abschließend wird zur internationalen Arbeitersolidarität aufgerufen und der Arbeiterkampf in China zum Kampf aller Arbeiter weltweit erklärt.

Uff... Von allen hier besprochenen Filmen macht KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) wahrhaftig am allerwenigsten Spaß. Er ist nicht nur der längste und dabei im negativen Sinne anstrengendste, sondern auch der offensichtlichste „Propagandafilm“ unter ihnen. Die Experimentierfreude von MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA ist deutlich zurückgefahren: hier geht es schon offensichtlich eher darum, Inhalte zu vermitteln bzw. „reinzuhämmern“.
Wenig hilfreich bei der Sichtung ist die dramaturgische Zerfahrenheit und auch das stilistische Allerlei, die den Film kennzeichnen. Zu ersterem: KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) scheint bisweilen eine etwas zu ambitionierte Strichliste abzuarbeiten. Von einem Thema wird immer wieder unvermittelt zum nächsten gesprungen. An anderen Stellen werden Kleinigkeiten jedoch geradezu aufreizend umständlich ausformuliert: etwa, um von den arbeitenden Reisbauern zu ihren vertrockneten Feldern zu kommen (an dieser Stelle werden gefühlt ein Dutzend Figuren eingeführt, von denen die meisten allerdings kaum relevant sind).
Was das stilistische Allerlei betrifft: von „freigestellten“ grotesken Fratzen, die vor einem schwarzen Hintergrund böse Sachen machen, bis zu den eher impressionistischen Bildern auf den Reisfeldern und zu den fast sozialistisch-realistischen Bildern der Arbeiter auf den Versammlungen durchläuft KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) gefühlt ein halbes Dutzend verschiedene Zeichenstile durch – was die inhaltliche Inkohärenz noch zusätzlich verstärkt. Die stilistische Zerfahrenheit lässt sich allerdings leicht erklären: von dem relativ kleinen Team bei MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA ist die Anzahl der Beteiligten massiv gestiegen. Nebst dem eingespielten Kernteam aus den Chodataevs, Kommissarenko und Merkulov kamen noch die beiden Brumberg-Schwestern Valentina und Zinaida, der Zeichner Ivan Ivanov-Vano sowie die Zeichnerin Ljudmila Blatova dazu, die alle kreativen Input leisteten.

Zu Ivanov-Vano und Ljudmila Blatova habe ich nicht viel gefunden. Die Brumberg-Schwestern jedoch, die sich 1924 bei KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) zum ersten Mal an einem Film beteiligten, wurden später zu etablierten Größen des sowjetischen Animationsfilms. Geboren wurden Valentina und Zinaida Brumberg 1899 bzw. 1900 in Moskau (und teilen sich zufällig ihren Geburtstag!) in eine jüdische Akademikerfamilie – der Vater war Arzt, die Mutter Musiklehrerin. Beide begannen Anfang der 1920er Jahre ihr Studium an der bereits erwähnten Vchutemas. Der Studiengang, den sie belegten, sah in der Studienordnung eine Beteiligung an einem Filmprojekt vor – so landeten sie bei den Vchutemas-Alumni Chodataevs, Komissarenko und Merkulov, die für die Realisierung von KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) Verstärkung suchten. Je nach Quelle kamen die Brumbergs zu dem Film durch eine Ausschreibung – oder aber, weil sie Kommissarenko, Merkulov und die Chodataevs persönlich aus gemeinsamen Lehrveranstaltungen kannten. Nach KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) arbeiteten sie jedenfalls noch weiter mit den Chodataevs, später nur noch mit Ol‘ga. Ab den 1940er Jahren wurden die Brumberg-Schwestern zu etablierten Größen des sowjetischen Animationsfilms und zu einer wichtigen Inspirationsquelle für spätere sowjetische Animationsfilmer und -filmerinnen. Beide galten als sehr freundliche, zugängliche Damen, mit denen man zu jeder Zeit auch ohne besonderen Anlass gut plaudern und Tee trinken konnte. Die Abteilung innerhalb des Animationsfilmstudios Sojuzmul‘tfil‘m, der sie vorstanden, galt als besonders kollegial und die Brumbergs sollen zu allen Mitarbeitern, selbst den unerfahrensten Hintergrundzeichnern, gegenüber stets freundlich gewesen sein. In einem kurzen Dokumentarfilm über die beiden haben die jüngeren Animationsfilmer Ėduard Nazarov und Fёdor Chitruk sowie mehrere ehemalige Brumberg-Mitarbeiter nur lobende Worte über die beiden Schwestern zu verlieren (erwähnen aber, dass bei Streiten untereinander sehr wohl Fetzen fliegen konnten).



ODNA IZ MNOGICH [„Eine von vielen“]
Sowjetunion 1927
Regie: Nikolaj Chodataev
Animation: Valentina Brumberg, Zinaida Brumberg, Nikolaj Chodataev
Darsteller: A. Kudrjavceva (die junge Träumerin), Mary Pickford (Mary Pickford), Douglas Fairbanks (Douglas Fairbanks)

Moskau 1926: Mary Pickford und Douglas Fairbanks besuchen die Stadt und werden auch in der UdSSR als große Stars gefeiert. In diesem Kontext lernen wir eine junge Moskauerin kennen, in deren Wohnung sehr prominent Bilder der beiden, aber auch von Buster Keaton, Charlie Chaplin und Harold Lloyd hängen. Sie geht natürlich auch in die Menschenmenge, um ihre beiden großen Lieblingsstars zu sehen. Zuhause zurück deklariert sie dann den Zuschauern (also gemeint: uns) völlig begeistert, dass Mary sie nach Amerika eingeladen hat und packt einen Koffer für die Reise. Doch, oh je! Von der ganzen Aufregung überwältigt legt sich die junge Frau auf ihre Couch und schläft ein – und beginnt zu träumen...
... und erwacht (im Traum) vor den Studios der United Artists in Hollywood auf. Zunächst ist sie auf einer vielbefahrenen Straße, doch das täuscht. In Wirklichkeit befindet sie sich auf dem Filmset von INTOLERANCE, wo der große „Bolschewik Hollywoods“ David Griffith gerade mit viel Autorität Regieanweisungen durch ein Megafon schreit (wir sind in einem Traum und in Träumen ist ja alles möglich – selbst Griffith als Bolschewik zu bezeichnen). Auf besagtem Set taucht der Tramp (aka Charlie Chaplin) auf und wird von Polizisten verprügelt. So schlimm ist das ganze dann doch nicht, denn er streckt dem jungen Mädchen noch frech die Zunge aus, die daraufhin zu weinen anfängt. Getröstet wird sie durch Pat und Patachon, die zwar menschlich aussehen, sich aber wie Pferde benehmen und ihr versprechen, sie auf ihrem Rücken zu Mary (Pickford) mitzunehmen. Daraus wird leider nichts, denn sie treffen auf der Straße Harold Lloyd, der sichtlich Probleme mit seinem Auto hat und das ganze endet in einem Crash auf einer Baustelle. Harold und die junge Moskauerin werden dann auf einem Hochhausträger in die Höhe gehoben. Nach einigen Versuchen, sich à la NEVER WEAKEN im Gleichgewicht zu halten, fällt die junge Frau hinunter, kann sich aber weiter unten noch festhalten. Währenddessen reitet ein Höhlenmensch (Buster Keaton im Aufzug von THREE AGES) auf dem Dinosaurier Gertie heran, rettet sie und nimmt sie dann auf höchst unsanfte Weise mit. Von einem maskierten Bösewicht (dieser spielt wahrscheinlich auch auf eine Figur aus dem westlichen Stummfilm an – bloß welche weiß ich gerade nicht) wird die Träumerin mit einer List entwendet und in einer Industriepresse platt gedrückt. In diesem Zustand wird sie von einem Cowboy, der aus dem Baum erwachsen ist, in den Buster Keaton vorhin einen Besen verwandelt hat und der zwischendurch einen Zug gecrasht hat... also kurz: die Moskauerin wird vom Cowboy (Tom Mix) gerettet und dann reitet sie mit ihm fort. Nach einigen Umwegen (Sturz in einen Fluss, dann Wirbeln durch den Himmel – was so beim Reiten eben passiert) stellt sich der maskierte Bösewicht in den Weg und kämpft dann mit dem Cowboy, während die Moskauerin auf einem spontan durch Fusion entstandenes Doppelpferd auf der Stelle stehen bleibt. Der Maskierte macht den Cowboy platt und entführt erneut die Moskauerin. Der Dieb von Bagdad (Douglas Fairbanks), der sich spontan vom Himmel heruntergelassen hat, verwandelt die Leiche des Cowboys in einen fliegenden Teppich und eilt zur Rettung der jungen Moskauerin herbei – und verwandelt sich vorher in Zorro. Das Telefon klingelt, und Mary ruft Doug zum Frühstück. Doug geht also weg. Aus einer Höhle tauchen plötzlich Löwen mit anthropomorphen Gesichtern auf, die die wegrennende Moskauerin möglicherweise gleich verschlingen werden. Rechtzeitig springt sie durch ein Loch...
... und wacht auf. Die belebten Portraits ihrer Lieblingsstars an ihrer Wohnungswand sehen die junge Moskauerin verwirrt auf dem Fußboden sitzen und lachen.

Was für eine fantastische kleine Perle von einem irrsinnigen Film! Eine sowjetische Hommage an das Hollywood-Kino in Form eines surrealistischen Traumfilms.
Träumende Frauen sind in der russisch-sowjetischen Kulturgeschichte an sich nichts außergewöhnliches. In Nikolaj Černyševskijs Roman Was tun? von 1863 träumte die Hauptfigur, Vera Pavlovna, zwischendurch von einer Utopie eines künftigen sozialistischen Lebens: eine relativ triste Vision mit gänzlich unsinnlichen (um nicht zu sagen puritanischen) polygamen Vernunftsehen und einer kommunalen Organisation des Lebens, die den Charme einer sterilen Großkantine verströmt – das hinderte diesen auch ansonsten völlig unlesbaren und faden Roman nicht, zur „Bibel“ der russischen revolutionären Bewegung zu werden bzw. Lenin nicht daran, den Titel für seine Schrift über die Organisation der Partei als Avantgarde der Arbeiterschaft von 1902 zu klauen. Wie viel aufregender ist da doch der Traum der jungen, filmbegeisterten Moskauerin, den die Chodataevs und die Brumbergs zusammen erschaffen haben!
Es ist auch der Traum einer frühen Überwindung des Kalten Kriegs. Dieser begann in vielerlei Hinsicht nicht in den späten 1940er Jahren, sondern im Prinzip schon 1917. Die Russische Revolution läutete im Westen, besonders in den USA, den „red scare“ ein: ein massiver Antikommunismus, der sich gegen alles Russische, gegen Ausländer (und auch schon gegen Juden) wandte. In der Sowjetunion wurde die Systemfrage nicht nur als Abstraktion ausgetragen: der Kampf gegen den Kapitalismus wurde rasch zu einem Kampf gegen das Westliche und das Amerikanische. Der sowjetische Kommunismus war bereits in den 1920er Jahren massiv xenophob. Chodataev selbst hatte in MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA und KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) schon anitamerikanische Ressentiments bedient. In ODNA IZ MNOGICH ist davon keine Spur zu sehen. Wenn auch das Fangirl-Verhalten des jungen Mädchens ein wenig auf die Schippe genommen wird, so ist der Film das Dokument einer echten Liebe für das US-amerikanische Kino und seine Helden (und Antihelden).
Wie viele dieser Stummfilme in der UdSSR in die Kinos (und vor allem: in wie viele Kinos) kamen, kann ich auf die Schnelle nicht sagen. In die sowjetischen Kinos kamen gemäß IMDb beispielsweise ROBIN HOOD (mit Douglas Fairbanks) und Keatons THE GENERAL (dieser aber erst 1929). Die 1920er Jahre kannten natürlich eine wesentlich lockerere Kulturpolitik als in den 1930er und 1940er Jahre, und sei es nur in Bezug auf Auslandsreisen, die sowjetische Filmemacher sich zu dieser Zeit noch erlauben konnten, um etwa Filme zu sehen – oder gar Filme zu planen und zu drehen, wie Manfred über Eisensteins lange Westreise schon berichtete.

ODNA IZ MNOGICH war auch ein frühes Beispiel der Vermischung von Animations- und Realfilmelementen – in der Sowjetunion möglicherweise der erste Film, der so etwas machte. Er enthält zudem auch etwas, was man als Proto-Mockumentary-Element bezeichnen könnte: das Dokument eines realen Ereignisses (Mary Pickfords und Douglas Fairbanks‘ Moskau-Besuch) wird nicht nur als Aufhänger für eine Kurzgeschichte gebraucht, sondern auch mit Spielszenen montiert (wenn die junge Frau, gespielt von einer A. Kudrjavceva, in einer jubelnden Menschenmenge zu sehen ist). Das dauert nur einige Sekunden. Im selben Jahr wie ODNA IZ MNOGICH kam ein abendfüllender Film mit dieser Idee heraus: in POCELUJ MĖRI PIKFORD („Ein Kuss von Mary Pickford“) verliebt sich ein Theaterkassierer in eine Schauspielerin vor dem Hintergrund von Pickfords und Fairbanks‘ Moskaubesuch. In die Filmhandlung sind zahlreiche dokumentarische Filmaufnahmen der beiden Hollywood-Stars montiert, deren Besuch von zahlreichen Kameramännern festgehalten wurde. Die beiden US-Stars wussten wohl im vornherein von dem Projekt – und haben für den Regisseur Sergej Komarov möglicherweise einige Szenen (als sich selbst) gespielt.

Doch zurück zu ODNA IZ MNOGICH, der diese ganzen Elemente völlig nonchalant und mit großer Leichtigkeit nutzt. Dazu gehört auch der Bruch der Vierten Wand, als sich die junge Filmliebhaberin begeistert an die Kamera wendet: das wirkt hier unglaublich frisch, bevor solche Effekte etwas über ein halbes Jahrhundert später zum Klischee postmoderner Ironie wurden.



BUDEM ZORKI [„Wir werden wachsam sein“]
Sowjetunion 1927
Regie: Nikolaj Chodataev

Im gleichen Jahr wie ODNA IZ MNOGICH kam von Nikolaj Chodataev ein Film heraus, der wieder das Zerrbild des fetten, grotesken, westlichen (hier spezifisch: englischen) Kapitalisten zeigte. Neidisch sieht dieser, wie die sowjetische Wirtschaft immer mehr anwächst. Das lässt er sich natürlich nicht bieten und sabotiert sie, indem er an ein paar Strommästen die Kabel runterreisst, so dass die sowjetische Wirtschaft dann (im freeze-frame) stillsteht. Dagegen hält die Sowjetunion viele Lösungen bereit: sozialistische Sterne, Bomberflugzeuge – und Staatsanleihen! Mit diesen sollen die sowjetischen Arbeiter und Bauern ihr Vaterland dabei unterstützen, die westliche Bourgeoisie zu zerschlagen, was explizit nicht nur mit dem Gewehr, sondern auch mit dem Rubel gelingen soll. Da bleibt dem grotesken, fetten, englischen Kapitalisten nichts anderes übrig, als heulend zusammenzubrechen.
BUDEM ZORKI ist kein großer Wurf, zumal bei nur drei Minuten und zumal er offensichtlich nur ein Werbeclip war, um den Verkauf von Staatsanleihen anzukurbeln. Nicht uninteressant ist er filmisch, weil er in nicht einmal drei Minuten recht flott ein Bedrohungsszenario aufmacht und die Überwindung dieses aufzeigt und dabei fließend zwischen Animation und Realfilm (hier: stock footage) hin- und her wechselt (und an einer Stelle sogar kurz kombiniert).
Der Film ist auch das Dokument eines Landes, das sich im permanenten Kriegszustand wähnt und sich in einem Zustand extremer Anspannung befindet, angetrieben von einer intensiven, ausländerfeindlich angehauchten Spionage- und Sabotage-Paranoia. Der Beginn des Stalinismus wird gemeinhin mit 1928 beziffert, doch der Übergang war in vielerlei Hinsicht eben auch fließend.



SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK [„Der Samojeden-Junge“]
Sowjetunion 1928
Regie: Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva, Valentina Brumberg, Zinaida Brumberg
Animation: Vasilij Semёnov

Die Russische Revolution war nicht nur russisch. Nur knapp über die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung war in den 1920er Jahren russisch. In der ersten All-Unions-Volkszählung von 1926 waren knapp unter 200 nationale Gruppen gelistet. Nebst Russen wären als größere nationale Gruppen Ukrainer, Weißrussen, Polen, Juden (die den Status einer eigenen Nationalität hatten), Georgier, Armenier, Usbeken, Tataren und andere zu nennen. Unter den kleinen nationalen Gruppen waren viele indigene Volksgruppen aus Sibirien und dem hohen russischen Norden verzeichnet – darunter die Nency bzw. Nenzen (das Regie-Autoren-Duo Aleksej Fedorčenko und Denis Osokin siedelten den Film ANGELY REVOLJUCII, über den ich vom goEast-Festival 2015 berichtete, in den Nenzen-Regionen an).

Nun: in SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK erlegt der Nenzen-Junge Ču bei einem Ritt durch die verschneite Steppe einen Bären, der ihm aber im Dorf gleich vom betrügerischen Schamanen wieder abgenommen wird. Ču dient dem Dorfschamanen als Assistent beim Gottesdienst: er bedient den Mechanismus, der das Idol vor versammelter Gemeinde bewegt. Aus Rache für den gestohlenen Bären lässt er den ganzen Schwindel auffliegen und den Schamanen dabei blöd aus der Wäsche gucken. Dieser setzt Ču auf einer Eisscholle dann aus (wie genau, ist unklar – möglicherweise ist der Film nur teilweise überliefert und hier lückenhaft). Ču wird von einem sowjetischen Dampfer gerettet und dann an der Arbeiterfakultät für Völker des Nordens in Leningrad ausgebildet.

SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK entstand im Kontext der sowjetischen Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre, der sogenannten „Einwurzelungspolitik“ (korenizacija). Ihr Ziel war es, die nicht-russische Bevölkerung des Landes aktiv in das neue System zu integrieren. Dafür sollte die Sowjetmacht vor Ort die Sprache der jeweiligen Bevölkerung sprechen können. Die umfassenden Alphabetisierungskampagnen der 1920er Jahre fanden in muttersprachlichem Unterricht statt. Millionen von Ukrainern, die nicht in ehemaligen Habsburger Gebieten lebten, lernten beispielsweise erst in den 1920er Jahren in ihrer eigenen Muttersprache lesen und schreiben. Ein umfassendes und kompliziertes System von Sowjetrepubliken und autonomen Gebieten wurde implementiert – zusammen mit nationalen Quotenregelungen für die Besetzung von Staats-, Partei-, Verwaltungs- und Wirtschaftsämtern. Jede Nationalität sollte ihre eine eigene Nationalgeschichte und Nationalkultur haben (die Quadratur des Kreises war, dass diese natürlich „sowjetisch“ sein sollten und – die antireligiösen Kampagnen waren in den 1920er Jahren am virulentesten – möglichst „atheistisch“).
Die korenizacija-Politik, die in der Geschichtswissenschaft nach wie vor rege diskutiert wird, war ein zweischneidiges Schwert und ist keinesfalls mit der Vision eines multikulturellen Landes zu verwechseln: die Zukunftsvision der Bolschewiki war städtisch, industriell und im Kern auf eine europäische Moderne ausgerichtet. Bereits russische Bauern waren ihnen völlig fremd – nichtrussische Nomaden, Jäger und Sammler erst recht. Die korenizacija bedeutete auch einen Zwang zu nationaler Kategorisierung und zementierte das Denken in nationalen Kategorien. Jeder Sowjetbürger hatte in seinem Pass (also nicht „Reisepass“, denn die gab es nicht für jedermann, sondern im Pass zur Identifikation innerhalb der Sowjetunion) eine Nationalität verzeichnet. Anfang der 1930er Jahre endete die korenizacija, und der sowjetische Staat ging über zu einer Politik der Russifizierung sowie zu massivem Terror gegen nationale Minderheiten.

Ču, der Held von SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK, wendet sich jedenfalls in seinem Dorf (aus persönliche Gründen) gegen das „alte Regime“ (dem Einfluss der Schamanen) und dem neuen Regime zu, das ihm eine gute Ausbildung ermöglicht (im Film allerdings auf Russisch). Er erinnert sich trotzdem an seine Heimat (in einem Flashback, der als Splitscreen realisiert ist und interessanterweise das Lenin-Portrait an der Wand überdeckt). Als er am Ende aus der Arbeiterfakultät geht, ist es also nicht unwahrscheinlich, dass er in seine Heimat zurückkehrt, um dort als Parteiarbeiter oder Verwaltungsbeamter am Aufbau des sowjetischen Staates mitzuwirken – bevor er dann möglicherweise zwischen 1936 und 1938 hingerichtet wurde oder in einem Lager verschwand.

Der Stil von SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK, so ist es an mehreren Stellen zu lesen, sei von den Holzschnitzereien der Nenzen beeinflusst. Der oben genannte Regisseur Nazarov nennt den „Leningrader Stil“ des Malers Mstislav Dobužinskij als weiteren Einfluss auf den Look von SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK. Ich selbst kann das schlecht beurteilen: mir scheint es jedoch, dass der Stil jenem in ODNA IZ MNOGICH nicht völlig unähnlich und dem des nächsten Filmes, GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA, sogar sehr ähnlich ist – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Chodataevs (offiziell waren die Brumbergs an letzterem nicht beteiligt) mittlerweile eine persönliche Handschrift entwickelt hatten. Die russischen Zwischentitel bilden jedenfalls in beiden Filmen schöne, lautmalerische Reime.

Und wer denkt, dass der Humor und das Quäntchen Irrsinn nach ODNA IZ MNOGICH versiegt ist, wird gleich eines besseren belehrt!



GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA [„Der grausame Vavila und Tantchen Arina“]
Sowjetunion 1928
Regie: Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva

Die Russische Revolution sollte nicht nur Arbeiter, Bauern und nationale Minderheiten befreien – sondern auch Frauen. Mit den Frauen verhält sich die ganze Sache zumindest ganz am Anfang der Revolution sehr einfach: ohne Frauen hätte es möglicherweise keine Russische Revolution gegeben. Anfang 1917 zeigte das Russische Reich bereits massive Zerfallserscheinungen. Am 23. Februar gingen streikende Textilarbeiterinnen in Petrograd – die männlichen Arbeiter waren mehrheitlich an der Front – auf die Straße, um für „Brot und Frieden“ zu demonstrierten. Ihnen schlossen sich viele weitere Frauen an. Diese Demonstration markierte den Beginn der sogenannten Februarrevolution, die zur Abdankung des Zaren, zur Berufung der „Provisorischen Regierung“ und zur Projektierung einer Verfassungsgebenden Versammlung führte. Der Begriff der „Februarrevolution“ hielt sich – der julianische Kalender nicht, und deshalb wurde später das gregorianische Datum dieses Ereignisses zum Frauentag erklärt: also der 8. März.

An einem solchen 8. März spielt auch GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA, allerdings nicht in der nunmehr Leningrad benannten Stadt, sondern in einem namenlosen russischen Dorf, in dem die beiden Titelfiguren leben. Tantchen Arina jedoch hat nicht gemerkt, dass heute der 8. März ist. Die Sonne erinnert sie daran und durch eine List bringen sie die beiden Eimer, die sie schleppt, nach Hause zurück, wo sie sich erinnert und von allen Haushaltsgegenständen einen kleinen Freudentanz vorgeführt bekommt. Die Garderobenständer geben ihr sogar ausdrücklich frei. In der Zwischenzeit kommt eine Nachbarin vorbei und ermuntert Arina, an diesem freien Tag zur Versammlung zu gehen. Selbst auf dem russischen Dorf gäbe es an einem freien Tag bestimmt Spannenderes zu tun, als zur Versammlung zu gehen – aber na gut: Richtung Versammlung also! Auf dem Weg treffen die beiden Frauen Arinas Mann, der offensichtlich bereits betrunken ist, aggressiv sein Mittagessen fordert und Arina schließlich schlägt. Nach einigem Ringen ziehen die Frauen dann doch los und lassen Vavila zurück, der blöd aus der Wäsche schaut. Wenn sich dieser dann an den Zuschauer wendet, was das denn für ein Männerleben sei und wer ihm jetzt seine Suppe und seinen Kartoffelbrei koche, wirkt er schon ziemlich lächerlich. Als sich aber zuhause die Haushaltsgegenstände über ihn lustig machen, zieht er wieder mit einem schlagfähigen Gegenstand los. Auf dem Weg gabelt er einen Kumpanen auf. Als sie vor der Hütte stehen, in der die Versammlung stattfindet, wird ihnen die Tür vor die Nase zugehauen. Bei der Versammlung wird Arina durch andere Versammlungsteilnehmerinnen vom Konzept der sowjetischen Befreiung der Frau überzeugt. Vavila und sein Kumpane schauen wieder blöd aus der Wäsche, und werden gar von den Gegenständen, die sie mitgenommen haben, um ihre Frauen zu schlagen, selbst geschlagen und vertrieben. Die Frauen indessen demonstrieren durch das Dorf mit der Losung „Nieder mit Küche und Herd“und die letzten Bilder machen klar, dass die Sonne sich mit ihnen solidarisiert.

Das größte Geheimnis von GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA ist vielleicht sein Titel: warum gehört der Titel nicht Arina alleine und warum ist sie erst an zweiter Stelle genannt? Die belebten, tanzenden, aktiv in die Handlung eingreifenden Haushaltsgegenstände geben dem Film eine leicht märchenhafte Note – aber hier endet auch jegliche Ähnlichkeit mit den Zeichentrickfilmen des Disney-Studios. Die in wenigen Minuten erzählte Geschichte einer weiblichen Befreiung, die gleichzeitig gewalttätige Männlichkeitsfantasien dekonstruiert, ist eher verwandt mit FEMINA RIDENS, SECRETARY, SEDMIKRÁSKY, AN ANGEL AT MY TABLE und teils BIGGER THAN LIFE – im sowjetischen, zeitgenössischen Kontext am ehesten vielleicht mit Eisensteins GENERAL‘NAJA LINIJA, in dem sich eine Bäuerin aktiv für die Modernisierung ihres Dorfes einsetzt. Im Gegensatz zu diesem denkt GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA allerdings kaum in sowjetischen, frühstalinstischen Klassengegensätzen, sondern konzentriert sich ganz auf den Geschlechtsaspekt bzw. auf die Überwindung ländlich-patriarchalischer Mentalitäten. Vavila ist persönlich „grausam“, aber kein Kulak oder Saboteur des sowjetischen Dorfes. Am Ende bekommt er jene Prügel, die er seiner Frau gegeben hat bzw. geben wollte, in ausgleichender Gerechtigkeit zurück. Ob er in einem potentiellen „Sequel“ des Films vielleicht lernen könnte, ein freundlicher, respektvoller und nüchterner Sowjetbürger zu werden, bleibt offen.
Ob Arina und ihre Freundin auch in den 1930er Jahren viel zu lachen hatten, muss ebenso offen bleiben. Als Bauern gehörten sie zu den potentiellen Opfern der Kollektivierungskampagnen, die sich ein Jahr später intensivierten. Auch als Frauen hatten sie womöglich nicht mehr lange zu lachen. Das Klima der Frauenbefreiung der 1920er Jahre endete ebenfalls in der Stalin-Ära: die Frauenabteilung der Kommunistischen Partei, die unter anderem die Legalisierung der Abtreibung und ein liberales Scheidungsrecht durchgesetzt hatte, wurde aufgelöst, eben erwähnte Gesetze rückgängig gemacht oder zumindest wieder verschärft und ein konservativeres Familienbild mit der Ehefrau und Mutter am Herd propagiert.



ORGANČIK [„Die Spieldose“]
Sowjetunion 1933
Regie: Nikolaj Chodataev

Unter einem namenlosen Zaren, der nicht der schlechteste war, aber doch der niederträchtigste, stirbt der Gouverneur von Dummstadt. Der Zar sucht einen Nachfolger und möchte den Kandidaten schicken, der am lautesten schreien kann, und das ist der General-Major Übermütig. Der wiehert so laut wie ein Pferd und hat nichts im Kopf – deshalb kriegt er dorthin eine Spieldose verpflanzt, die den menschlichen Verstand ersetzt. Der neue Stadtgouverneur von Dummstadt beginnt, kompulsiv Drohungen auszusprechen (er kreischt immer wieder „Razboju“ – „ich werde zerstören“) und um sich zu schlagen und erhält vom Zaren den Auftrag, die Grundsteuern mit allen Mitteln zu erheben und jegliches freie Denken zu zerschlagen. In Dummstadt wird der neue Gouverneur von den Notabeln (Klerus, Verwaltung, Händler) begeistert empfangen. Wenig begeistert ist er von der städtischen Bücherei, die er sogleich niederbrennen lässt. In seiner neuen Residenz angekommen entdeckt er die Liste der unbezahlten Grundsteuern aus den umliegenden Dörfern, was ihn wieder dazu bringt, eine Drohhaltung einzunehmen. Mit einer halben Armee zieht der neue Stadtgouverneur los und lässt ohne Vorwarnung ein Dorf bombardieren. Geknickt zahlen die Bauern die wenigen Rubel, die sie dem Staat schulden. Zur Feier des Sieges gibt es ein rauschhaftes Fest im Theater, bei dem der Stadtgouverneur ordentlich über die Stränge schlägt. Später wird der Betrunkene in seine Kutsche geworfen und Richtung Residenz gefahren, doch ein Sturm zieht auf. Die Kutsche gerät in ein Zeitloch und landet in einer sowjetischen Stadt der frühen 1930er Jahre. Nach kurzer Zeit wird das Gefährt der vergangenen Zeit vom motorisierten Verkehr überrollt. Der Stadtgouverneur landet im Fluss, ertrinkt und verschwindet. Die Spieldose, die in seinem Kopf das Gehirn ersetzte, wird im Museum aufbewahrt...

In der Kürze liegt die Würze des frühen sowjetischen Animationsfilms? Der zweitlängste der besprochenen Chodataev-Filme hat mir ebenso wenig gefallen wie der China-Halbstünder. Verfilmt hat Chodataev eine Erzählung des Schriftstellers Michail Saltykov-Ščedrin, einem der großen Satiriker des 19. Jahrhunderts: ein vehementer Kritiker von Bürokratie, Repressionen und sozialem Elend in der Ära Alexanders II. und Alexanders III. Es ist vermutlich letzterer, der dem Zaren in ORGANČIK als Vorbild diente: seine autoritäre, repressive Herrschaft beendete drastisch die vorangehende Reform-Ära Alexanders II. und sein korpulentes Äußeres lässt sich im leicht tierischen, namenlosen Zaren des Films erahnen. Die marxistischen Revolutionäre Russlands hatten ein gespaltenes Verhältnis zu Michail Saltykov-Ščedrin, weil er einerseits als Musterkritiker des alten Regimes, andererseits als nicht dezidiert politisch genug galt. Jedenfalls wurde 1932 die Bibliothek, die heute die Russische Nationalbibliothek ist, nach Saltykov-Ščedrin benannt und behielt diesen Namen auch bis Anfang der 1990er Jahre.

ORGANČIK war nicht der erste Tonfilm Chodataevs: 1931 hatte er bereits den tönenden Film AVTODOREC gedreht, über eine Organisation, die die Motorisierung des Landes und die Verbesserung des Straßennetzes vorantreiben wollte. Den Film habe ich nirgendwo gefunden und deshalb belasse ich es bei einem kurzen Hinweis. Die Nutzung des Tons geht in ORGANČIK kaum weiter als bis zur Untermalung mit Musik und vielen eher gimmick-haften Soundeffekten, die witzig sein sollen, aber zumindest bei mir nicht gefunkt haben. Narrativ wirkt der Ton jedenfalls kaum als Fortschritt gegenüber Chodataevs früheren Arbeiten: ORGANČIK ist sein Film mit den meisten expositorischen Zwischentiteln und Texten. Und im Gegensatz zu SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK oder GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA reimen sich die Texte nicht. 

SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK
GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA
SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK sowie GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA sind auf einer kürzlich erschienen Doppel-DVD-Box der „filmedition suhrkamp“ mit dem Titel Der neue Mensch: Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland enthalten. Der Titel der Edition mag nichtssagend sein und die Auswahl der Filme an sich scheint ein bisschen willkürlich, da man darunter nun wirklich vieles zusammenfassen könnte. Enthalten sind jedenfalls acht Filme: vier abendfüllende Spielfilme und vier Kurzfilme. Die Stummfilme (darunter die beiden Filme der Chodataevs) werden vom exzellenten Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff begleitet. Die Auswahl und Zusammenstellung der Filme mag etwas willkürlich sein, ändert aber nichts daran, dass die Edition Der neue Mensch sehr schön ist. Die beiden Chodataev-Filme (die anderen bestimmt auch, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, sie zu schauen) sind in guter Bildqualität zu sehen.

SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK sowie GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA waren für mich eine Anregung, mich weitergehend mit den Chodataevs und dem frühen sowjetischen Animationsfilm zu befassen. Aus der DVD-Edition Der neue Mensch werde ich in Kürze mindestens noch einen Spielfilm besprechen – vielleicht aber auch mehr.