Montag, 11. Juli 2016

Belagerung, Invasion, Isolation – John Carpenter wieder- und neuentdeckt

John Carpenter mit cooler Lederjacke am Telefon – ein Cameo in VILLAGE OF THE DAMNED

Ein „Gesamtkunstwerk des Unbehagens“: so wurde John Carpenters Œuvre im Programmheft einer Retrospektive genannt, die im Wiener Gartenbaukino vom 20. Mai bis 2. Juni dieses Jahres lief (dies mit besonderem Hinblick darauf, dass Carpenter die markante Musik zu seinen Filmen oft selbst komponierte). Als Erschaffer von Ur-Erzählungen bezeichnete implizit der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding John Carpenter im Rahmen seiner eigenen Werkschau (hier in der Besprechung von ELVIS). John Carpenters Filme seien der (Alb-)Traum einer isolierten, einsamen Insel – so in einem ausführlichen Essay (englische Übersetzung & französisches Original), in dem Emmanuel Siety die Filmemacher  und Howard-Hawks-Fans Jacques Rivette und John Carpenter vergleicht. Ein Poet des radikal verkürzten Tages und der nie enden wollenden Nacht, dessen Filme geradezu obsessiv um die wiederkehrenden Themen Belagerung, Invasion und Isolation kreisen – so könnte man Carpenter auch bezeichnen und das tue ich hiermit mal.
Auch beim Showdown: immer Zeit und Platz für
eine Hawks-Hommage (THE FOG)
Auf der anderen Seite dieses wiederkehrende Narrativ: der Meisterregisseur, der in den 1970er Jahren großartige Filme inszenierte, irgendwann aber anfing, nur noch totalen Mist zu drehen und bei dem die Welt froh sein sollte, dass er offenbar nun keine Filme mehr drehen wird (sondern nur noch musiziert). Der Startpunkt von „des Meisters John unumkehrbare Dekadenz“ variiert je nach Erzählung: manchmal „alles nach THE THING“ (also 1982) und manchmal „alles nach IN THE MOUTH OF MADNESS“ (also 1994). Dieses Meisternarrativ (als Narrativ des „gefallenen Meisters“ und als „Ur-Erzählung“) finde ich schrecklich langweilig, erkenntnisarm – und versuchte es bereits in meiner ausführlichen Besprechung des sträflich unterschätzten und viel geschmähten MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN zu entkräften. Im Zuge einer umfassenden Retrospektive, für die ich die ersten fünf Monate dieses Jahres in Anspruch nahm, habe ich gemerkt, dass ich in beiden Punkten recht habe: ja, MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist John Carpenters bester Film, und ja, das Narrativ des gefallenen Meisters ist absoluter Blödsinn!

Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich Anfang Januar eine persönliche Carpenter-Retrospektive startete. Ich brauchte vier Filme, bis ich zu dieser Entscheidung kam, akribisch die Filmographie Carpenters abzuarbeiten (wenngleich nicht wirklich „systematisch“ oder gar chronologisch, sondern eher nach rein technischen Möglichkeiten der Verfügbarkeit). THEY LIVE, den ich in der Uralt-DVD-Fassung mit komischem Bildformat (2.17:1) zu Weihnachten bekommen habe, begeisterte mich Anfang Januar bei der Wiedersichtung. Wenig später, bei einer Schnäppchen-Aktion in der Drogerie meines Vertrauens, kamen die beiden Plissken-Filme hinzu: eine fantastische Wiedersichtung bei ESCAPE FROM NEW YORK, ein etwas befremdliches, aber nicht unbefriedigendes Kennenlernen von ESCAPE FROM L.A. Der berühmteste Recycler des abseitigen Films innerhalb des Mainstreamkinos, Quentin Tarantino, brachte mich zum nächsten Carpenter-Film, als er mich Ende Januar mit seinem neuesten Film THE HATEFUL EIGHT milde enttäuschte – zugleich aber das wirklich dringende Bedürfnis hervorrief, jenen Film zu sehen, auf den sein ausgedehnter Dreistünder zum Teil basierte: THE THING. Eine grandiose Zweitsichtung, die mir den Film nach einer etwas distanzierten Erstsichtung „öffnete“. 

Bennett lehnt ein Gläschen Wein ab und möchte lieber bald bezahlt
werden – Carpenters Cameo in THE FOG
Ich sprach eben von „dringendem Bedürfnis“. Nun, nach THE THING war dieses nicht geringer geworden. Denn zwei Wochen später wachte ich an einem Samstag Morgen auf und spürte ein furchterregendes Alien-Ding in meinem Bauch – nun, das jetzt nicht, aber doch den fast schon irrationalen Zwang, jetzt mal endlich was Neues von Carpenter zu sehen. Wieder in der Drogerie meines Vertrauens – François Truffaut bezeichnete Filmliebhaber als kranke Menschen, wie passend, dass ich also für meine Sucht zur „Drogerie“ gehen musste – stillte ich also mein Bedürfnis, setzte quasi meinen Entzugserscheinungen ein Ende, als ich PRINCE OF DARKNESS zu einem leicht erhöhten Preis erwarb und für den Abend nun Stoff hatte. Von nun an, von Anfang Februar bis Ende Mai, schaute ich regelmäßig jedes Wochenende, meist am Samstag Abend, mindestens einen Carpenter-Film. Die Beschaffung des „Stoffes“ organisierte ich dann auch etwas systematischer, auch wenn ich an manch einem Freitag bangte, dass das Paket nicht rechtzeitig kommen würde. Ich habe im Laufe vieler Wochen geradezu physisch erkannt, welch zwanghaftes, suchthaftes Potential Filmliebhaberei haben kann. Es ist wie Kratzen: das Jucken wird nur noch stärker, aber welch grandioses und erleichterndes Gefühl...

Die umfassende Rundreise durch John Carpenters Œuvre hat sich gelohnt. Am Ende stehen sehr viele Wiedersichtungen voller Genuss, viele Neusichtungen voller Überraschungen – und auch einige Enttäuschungen. Aber nun: Lieblingsregisseure zeichnen sich dadurch aus, dass man auch ihre Schwächen liebt oder zumindest verzeiht. Gewissermaßen hat die Retrospektive bestätigt, was ich implizit schon vor dem Jahr 2016 wußte: dass John Carpenter wohl zu meinen Top-10-Lieblingsregisseuren gehört.

Nun zur eigentlichen Rundreise, chronologisch nach den einzelnen Etappen...


THEY LIVE (1988)
2. Januar – 3. oder 4. Sichtung
Ein Arbeiter und sein Buddy enttarnen eine Invasion neoliberaler Aliens.
Ich habe THEY LIVE bislang immer im Fernsehen gesehen: meist hatte ich den Anfang verpasst und Tugendwächter hatten zusätzlich Hand angelegt (der Hawks‘ianische Kampf zwischen „rivals-to-be-friends“ dauerte dann statt 5 1/2 nur knapp 2 Minuten). So richtig vollständig habe ich ihn nun zwar aufgrund des leicht beschnittenen Bilds nicht gesehen, aber bereits in den ersten Sekunden zeigte sich die schiere Brillanz dieses Films: ein Holzfäller-Typ wandert mit einem großen Rucksack durch die Stadt, lernt dabei verschiedene Winkel kennen (abgeranzte Bahnhöfe, die hektischen Boulevards der Innenstadt, die Slum-Ränder) und wird dabei von Carpenters bluesigen Country-Score begleitet. Mit diesen simplen Mitteln bekommt der Film schon in den ersten Minuten einen eigenen, lebendigen Puls, einen eigenen Rhythmus.
In seinen Themen (es geht wieder einmal um eine Alien-Invasion und um einen Protagonisten, der über weite Strecken des Films komplett isoliert ist) erscheint THEY LIVE als archetypischer Carpenter-Film. Er sticht aber zugleich als sein wohl einzig wirklich politischer Film heraus (vielleicht von gewissen Aspekten der Geschlechterpolitik in THE WARD abgesehen und einigen Details in ESCAPE FROM L.A.). Die persönliche Rache an den „Schrecken der Reagan-Jahre“ bleibt dabei unangenehm ambivalent: Nada und Frank, die Kämpfer gegen die neoliberale Reagan‘schen Invasion, könnten von ihrer Veranlagung her genauso sehr für die andere Seite eingespannt werden. Man kann sie sich heutzutage gut als potentielle Tea-Party- oder Trump-Anhänger vorstellen. Diese Mischung aus dezidiert „linker Reagan-Satire“ und einer Ästhetik des „reaktionär-halbfaschistischen 80er-Jahre Actionkinos“ scheint mir besonders faszinierend (die Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass ich mir der extremen Vereinfachung des Sachverhalts bewusst bin). Ob er damit singulär ist? Wahrscheinlich nicht (LETHAL WEAPON 2 ist da ein bisschen ähnlich). Trotzdem einer von Carpenters besten und am sträflichsten unterschätzten Filmen.


ESCAPE FROM NEW YORK (1981)
23. Januar – 3. oder 4. Sichtung
Snake Plissken soll aus dem Riesengefängnis Manhattan den Präsidenten retten.
Es ist faszinierend, wie „unspektakulär“ ESCAPE FROM NEW YORK eigentlich ist (worin er nicht nur ASSAULT ON PRECINCT 13 ähnelt – sondern im Bereich der postapokalyptischen Actionfilme auch den ersten beiden MAD MAX-Filmen). Und dabei dennoch so perfekt, so aus einem Guss. Ein Mann, eine Mission, ein Ort, 24 Stunden. Konzentriert, aber nicht gehetzt.
Ich bin etwas enttäuscht, dass ich zu Carpenters vielleicht zweitbestem Film gerade nicht viel mehr zu sagen habe. Kommt das daher, dass er nicht inszeniert wirkt, sondern so, als wäre einfach immer da gewesen?
Die Zivilisation ist untergegangen, Pomp und Kitsch leben weiter:
des Dukes schickes Gefährt
P.S.: recht einzigartig ist der durch und durch individuelle und charismatische Bösewicht, kongenial von Isaac Hayes mit nervösem Gesichtszucken dargestellt. Im Grunde fast ein Unikum in Carpenters Schaffen. Der „Bösewicht“ ist ja oft entweder komplett unsichtbar (THE WARD, SOMEONE'S WATCHING ME!), eine größere Bande (ASSAULT ON PRECINCT 13, VILLAGE OF THE DAMNED), gar eine organisierte Gruppe (THEY LIVE), oder aber ein übertragbares Konzept des Bösen (THE THING) oder gar nur ein Nebel (THE FOG) oder Schleim-Dings (PRINCE OF DARKNESS). Michael Myers in HALLOWEEN würde ich nicht als wirkliche (geschweige denn charismatische) Figur ansehen, sondern eher als latent materialisiertes Konzept. Und Kandidaten aus ESCAPE FROM L.A., VAMPIRES und GHOSTS OF MARS kommen mangels Charisma nicht in Frage. Ernsthafte Konkurrenten findet The Duke (Isaac Hayes) wohl nur in David Jenkins (Sam Neill) aus MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN, aber der hatte nicht einen so furchterregenden Assistenten namens Romero (ein wahrhaft Schrecken einflößender Frank Doubleday) – und auch kein so cooles Auto mit aufmontierten Kronleuchtern und einer Disco-Kugel am Rückspiegel!


ESCAPE FROM L.A. (1996)
24. Januar – Erstsichtung
Snake Plissken soll aus dem Riesengefängnis Los Angeles ein komisches Satellitensteuerungsgerät retten.
Sequel, Remake, auteuristische Variation, Parodie, postmoderne Pastiche?
Es gibt keinen Zweifel daran, dass ESCAPE FROM L.A. über weite Strecken fürchterlich albern ist. Die einzige wirkliche Härte, die erinnerungswürdig ist, kommt relativ früh, als Snake sieht, dass die Leiche seines Verbindungsmanns in einem Casino als Zielscheibe für Messerwurfübungen genutzt wird. Und die unterirdische Schönheitsklinik des Dr. Bruce Campbell ist zugegeben sehr grotesk. Der Rest wirkt ein wenig wie eine Disneyland-Variation von ESCAPE FROM NEW YORK – nicht aus Plastik, sondern größtenteils aus miserablen Computereffekten. Es geht von einem Camp-Höhepunkt zum nächsten, und Snakes Surf-Ritt auf der Welle mit Peter Fonda ist wahrscheinlich die Camp-Krönung von Carpenters gesamten Werk (man könnte ihn aber auch als kleine Selbst-Hommage an den Surf-Ritt am Schluss von DARK STAR sehen).
Nach der Absolvierung verschiedener Stationen wirkt gar der finale Kampf antiklimaktisch. Doch das alles wird irgendwie doch wettgemacht. Denn erstens macht es doch Spaß, Kurt Russell dabei zuzusehen, wie er als Snake Plissken Sachen macht (und seien sie noch so furchtbar albern). Und zweitens hat ESCAPE FROM L.A. das vielleicht stärkste Filmende in Carpenters Karriere. Plisskens Rache ist grausam, aber auch folgerichtig, wenn er mit einem Knopfdruck die Welt ins Mittelalter zurückbeamt. Und plötzlich ergeben die ganzen scheusslichen Computereffekte einen Sinn: Snake Plissken, ein kernig-körperlicher analoger und anarchischer Mann, hat über eine entkörperlicht-digitale, christlich-fundamentalistische Dystopie gesiegt.
ESCAPE FROM L.A. ist nicht der große Wurf, oft holprig inszeniert – aber irgendwie trotzdem liebenswert.


THE THING (1982)
30. Januar – Zweitsichtung
Ein wandlungsfähiges und höchst aggressives Alien-Ding greift eine Polarstation an.
Hochkonzentrierte Paranoia auf engstem Raum – die berühmte Bluttestszene
(und der Beweis, dass sowohl Brian De Palma wie auch Quentin Tarantino
in Sachen Split Diopter von John Carpenter einiges hätten lernen können)
Besonders der fast unmittelbare Vergleich mit Quentin Tarantinos Semi-Remake/Semi-Variation THE HATEFUL EIGHT offenbarte die Stärken von THE THING. Wo Tarantino aus seinem verschneiten Setting ein hoffnungslos ver- und zerlabertes Kammerspielchen macht, bei dem man sich tatsächlich zwischendurch in einer Agatha-Christie-TV-Verfilmung wähnt, lädt Carpenter zu einer wahrhaftigen Apokalypse aus Paranoia und geschundenen Körpern ein.
Ich habe es erst bei PRINCE OF DARKNESS wirklich gemerkt: Carpenters Expositionen wirken oft sehr lang, wann aber die „wirkliche“ Handlung anfängt, bleibt dennoch oft unklar (dazu gleich mehr). Bei THE THING ist das offenkundig. Gerade die Zweitsichtung offenbart, dass von Anfang an etwas nicht in Ordnung ist: natürlich, der Hund, der von den Norwegern verfolgt wird, aber eben auch ein großer Fatalismus seitens der Mannschaft auf der Station.
Überhaupt: Carpenters fatalistischster und pessimistischster Film. Kein Entkommen. Nie wieder ein Ausgang aus der Nacht.


PRINCE OF DARKNESS (1987)
13. Februar – Erstsichtung
Ein Kessel mit grünem Satanszeug wird im Keller einer Kirche gefunden und einige Wissenschaftler versuchen, damit irgendwie fertig zu werden.
PRINCE OF DARKNESS enthält möglicherweise die merkwürdigste Exposition in Carpenters Filmographie (und damit meine nicht nur, weil die opening credits mit 9 Minuten so lang sind). Seine Expositionen sind oft sehr lang – auch, weil die Situation, in die die Protagonisten hineingeraten, von Unsicherheit geprägt sind, und der „Startpunkt“ der „eigentlichen“ Handlung fast immer etwas unklar bleibt. Die Expositionen bei Carpenter sind oft verlängerte Momente der totalen Unsicherheit – wenn diese Momente überhaupt aufhören. Auf eine gewisse Weise fangen also viele seiner Filme „mittendrin“ im Geschehen an. Nun: Carpenter erscheint mir oft eher als „Realist“ denn als „Expressionist“ oder „Impressionist“. Doch die ersten 15-25 Minuten seines ersten Nicht-Studiofilms seit ESCAPE FROM NEW YORK wirken tatsächlich impressionistisch – unfokussiert, unkonzentriert könnte man das nennen, wie hier verschiedene Figuren eingeführt werden: Wissenschaftler, Priester, und diese beiden Studenten, die sich ineinander verlieben, während der andere lieber sein Wochenende beim Feiern als bei semi-obligatorischen Praxisstunden in einer Kirche verbringen möchte. Doch durch die merkwürdige Montage wirkt das alles so flüssig in der Ordnung und so flüchtig in den Emotionen...
So ist der Anfang von PRINCE OF DARKNESS in seiner Machart schon ein wenig jenseitig, verträumt. Der Rest des Films, der Carpenters übliche Themen verarbeitet (eine Invasion durch das grüne Schleimding, eine Belagerung durch die zombieartigen Obdachlosen, Isolation durch zunehmende Dezimierung und Paranoia), ist von der merkwürdigen Exposition nur mäßig geprägt und bietet solides Carpenter-Handwerk. Beide Teile passen irgendwie nicht wirklich zusammen, stehen sich aber nicht im Weg.
Weitere Sichtungen werden vielleicht dennoch offenbaren, dass hier möglicherweise sogar große Carpenter-Kunst lauert.


THE FOG (1980)
20. Februar – Zweitsichtung
Ein tödlicher Nebel mit schauerhaften Geistern belagert eine Küstenstadt und eine Radiomoderatorin muss den Tag retten.
Die wundervolle Adrienne Barbeau als Stevie Wayne
„Solides Carpenter-Handwerk“ war wohl ungefähr mein Urteil bei der Erstsichtung Anfang 2014. Nach der Zweitsichtung revidiere ich: THE FOG ist „große Carpenter-Kunst“. Auf jeden Fall ist er vielleicht der Carpenter-Film mit den schönsten Figuren. Nick und Elizabeth (Tom Atkins und Jamie Lee Curtis), die sich in der einsamen Nacht auf der Straße ein Bier teilen – und später das Bett und ansonsten völlig verloren durch diese Belagerungsgeschichte wandeln. Die windige, aalglatte Bürgermeisterin (Janet Leigh) mit ihrer dauerangepissten Assistentin (Nancy Loomis) – „You‘re the only person I know who can make ‚yes, Ma‘am‘ sound like ‚screw you‘!“. Hal Halbrook als weinseliger Priester. Am wunderschönsten ist sicherlich Stevie Wayne, in der Adrienne Barbeau ihre wohl schönste Rolle (zumindest in Carpenter-Film) gefunden hat und die die wunderbarste weibliche Carpenter-Figur ist, noch vor Laurie Zimmers Leigh in ASSAULT ON PRECINCT 13. Wirklich bewundernswert ist, wie THE FOG sie vollkommen und zu 100 % akzeptiert: dass die Hauptfigur eine alleinerziehende Mutter ist und einem eher „männlichen“ Beruf nachgeht, wird in keiner Weise thematisiert oder gar problematisiert  – sie ist es einfach und vor allem rettet sie den Tag (bzw. bei einem Carpenter-Film: die Nacht). Nicht das „Sein“ bestimmt das „Bewusstsein“ – das „Handeln“ bestimmt das „(Weiter-)Sein“ – was im Kern ziemlich Hawks‘ianisch ist.
(In Zeiten, in denen tatsächlich Leute ernsthaft rumpöbeln, weil eine Frau dieses komische Spiel mit den 22 Spielern und dem Ball kommentiert, ist das alles offenbar keine Selbstverständlichkeit.)


BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA (1986)
27. Februar – Erstsichtung
Ein Trucker plagt sich mit komischen chinesischen Geistern in Chinatown rum.
Manche Filme laufen nebenbei wie im Autopilot-Modus: man sieht sie, registriert sie also audiovisuell, statt sie wirklich zu schauen, also intellektuell und emotional zu verarbeiten. So bei mir BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA. Die Erinnerungen an diesen Film sind größtenteils bereits wieder verblasst. Kein schlechter Film, nein, sogar makellos gemacht. Aber irgendwie trotzdem egal. In kaum einem anderen Film ist es Carpenter „gelungen“, sich so sehr seelenloser Mainstream-Massenware anzunähern... In Sachen „irgendetwas Fantasy-mäßiges mit ostasiatischem Exotik-Einschlag“ bleibe ich lieber bei THE GOLDEN CHILD.


CHRISTINE (1983)
5. März – Zweitsichtung
Die zarte Liebesgeschichte zwischen einem gemobbten Schüler und einem tödlich eifersüchtigen Auto.
Das unvergesslichste Bild aus CHRISTINE 
Vielleicht der erste Carpenter, den ich jemals sah: damals, in meiner frühen Teenager-Ära als großer Fan von Stephen King, gehörte er zum Pflichtprogramm. Nun, Jahre später, bin ich etwas enttäuscht. Den Ansatz, CHRISTINE als proto-Cronenberg‘ianischen Film über Fetische zu lesen, als Vorgänger von CRASH, finde ich höchst spannend (THE THING könnte man im Grunde auch als proto-Cronenberg‘ianischen body-horror sehen): mir hat sich diese Deutung leider keineswegs aufgedrängt oder als „am Text“ (also an den Bildern) nachvollziehbar gezeigt. Davon habe ich nur Trümmerteile (bad pun intended) gesehen. Vor allem wirkte für mich CHRISTINE wie ein unfokussiertes Teenager-Melodrama, in dem zwischendurch auch ein Killer-Auto zu sehen ist. Ein Film, der nicht weiß, ob Dennis oder Arnie oder Christine die Hauptfigur sein soll (anscheinend irgendwie alle). Neben vielen laberseligen Momenten bleiben aber dennoch einige unvergessliche Bilder hängen. Die junge Frau, die nachts im Inneren des überhell erleuchteten Autos sitzt, das sie offenbar umbringen will (wie genau, versteht man nicht – wohl irgendwie „erwürgen“ oder „ersticken“ – und gerade das macht es noch gruseliger). Und natürlich das ikonische brennende Auto, das eines der Gangmitglieder verfolgt, es überrollt und dann brennend in der Nacht liegen lässt...


VILLAGE OF THE DAMNED (1995)
12. März – Erstsichtung
Ein Alien-Geist schwängert in einer Art massenhaften „unbefleckten Empfängnis“ alle Frauen einer Stadt und die heranwachsenden Kinder bereiten später den Erwachsenen der Gemeinde große Probleme.
Hier soll er also sein: John Carpenters Totalabsturz in die völlige Mediokrität. VILLAGE OF THE DAMNED – für viele ein Mahnmal der Dekadenz eines einst großen Regisseurs, der spätestens in den 1990er Jahren dem totalen Blödsinn verfiel. Viele finden allerdings auch Toast Hawaii lecker und das Spiel mit den 22 Typen und dem Ball total spannend!
VILLAGE OF THE DAMNED, und das kam für mich aufgrund der vielen unfreundlichen Worte über diesen Film überraschend (auch, wenn ich gegenüber solchen Urteilen erst einmal bis zur Sichtung skeptisch bleibe), ist ganz große Carpenter-Kunst. Wie irgendjemand auf die Idee kommt, diesen Film als lächerlichen „baddie“ abzutun, ist mir ein Rätsel.
VILLAGE OF THE DAMNED ist vielleicht Carpenters am wenigsten „abstrakter“ Film, möglicherweise vor allem sein humanistischster. Das Böse ist in den meisten seiner Filme eine absolute, alles infizierende Kraft (am heftigsten in HALLOWEEN) – und hier kommt die Figur des kleinen Jungen David, der aus dem Geist des Bösen gezeugt wurde und für das Böse bestimmt ist, aber im Laufe des Films immer mehr Zweifel an den Tag legt, weil er Gefühle und ein Gewissen entwickelt – und damit zum totalen Außenseiter wird. VILLAGE OF THE DAMNED ist hier fast schon utopisch: das Böse ist gestört, und Humanität kann in Ansätzen doch siegen. Die andere Seite der Medaille ist natürlich, dass die „bösen“ Kinder teilweise mit Erwachsenen konfrontiert werden, die kleinlich, borniert, dumm und teils selbst keine Engel sind – sie zerstören keine Idylle, sondern ein brodelndes Etwas mit einer idyllischen Fassade. Das Mitgefühl des Films gehört auch einer jungen Dorfbewohnerin, die unter schweren Depressionen leidet und in der Gemeinde als Außenseiterin lebt.
In VILLAGE OF THE DAMNED passiert auch ein Wunder. Die Offenbarung des David als Alien-Brut mit menschlichen Gefühlen passiert unter freiem Himmel im Gespräch mit Christopher Reeves Arztfigur. Es ist sonnig hell, aber während des Dialogs verschwindet für einige Sekunden die Sonne (nachdem David gefragt hat „You've lost someone too?“), um dann wieder – gefühlt noch heller – aufzutauchen. Wahrscheinlich ein ungeplanter Umstand, der der Szene eine ungemeine Kraft verleiht.
VILLAGE OF THE DAMNED ist vielleicht auch jener Carpenter-Film, in dem er seine Meisterschaft des Cinemascope-Formats am eindrücklichsten unter Beweis stellt.

Meisterhafte Cinemascope-Komposition mit zwei Außenseitern
Magischer Moment mit verschwindender und wieder auftauchender Sonne

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN (1992)
19. März – 10., 11. oder 12. Sichtung (?)
Ein totaler Nobody wird unsichtbar, muss damit klar kommen und nebenbei seine Traumfrau erobern sowie einem tödlichen CIA-Agenten entfliehen.
Carpenters Gottwerdung. Sein bester Film. Einer der besten Filme der 1990er Jahre. Ein praktisch unübertreffbares Meisterwerk.
MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist Carpenters „Hitchcock“-Man-on-the-run-Film, aber nach der offenbarenden Sichtung von Howard Hawks‘ MAN‘S FAVORITE SPORT? bin ich mir sicher, was die größte Stärke des Films ist: er ist voll und ganz „spät-Hawks‘ianisch“ – ein absolut perfekter Film, der dabei von größtmöglicher Lockerheit und Wärme ist.
Was ich bereits einmal hier auf diesem Blog über diesen Film geschrieben habe, scheint mir weiterhin sinnvoll.


HALLOWEEN (1978)
27. März – Zweitsichtung
Michael Myers flieht aus der Irrenanstalt, um seiner Heimatstadt einen überaus tödlichen Besuch abzustatten.
HALLOWEEN ist sicherlich einer von Carpenters best-inszenierten Filmen aus einer rein technischen Perspektive. Geradezu ein filmästhetisches Lehrstück in Sachen ultrakonzentriertes Filmemachen (also zumindest für erwachsene Zuschauer).
Zugleich ist HALLOWEEN auch Carpenters kältester und auch unmenschlichster Film. Ich bin mir nicht sicher, ob sich das Böse in Form des Michael Myers möglicherweise nicht nur in die intradiegetische Umgebung des Films, sondern auch in den kompletten Film an und für sich hineingefressen hat. In diesem Sinne wäre der Film „übergelungen“.
Ein bemerkenswerter Film, mit dem ich allerdings auch beim zweiten Mal nicht so richtig warm (im fast wörtlichen Sinne) wurde.


IN THE MOUTH OF MADNESS (1994)
2. April – Erstsichtung
Ein Privatdetektiv sucht einen verschollenen Horrorschriftsteller und gerät in dessen tödliche literarische Welt.
Hier ist er also: John Carpenters angeblich „letzter guter Film“ oder zumindest „letztes interessantes Werk“, bevor die völlige Dekadenz zuschlug... Das Narrativ des Regisseurs, der es irgendwann einmal nicht mehr bringt, kennt zumeist ein Zäsurwerk – der letzte Film vor dem Abstieg in die Mediokrität. Als solcher gilt gemeinhin IN THE MOUTH OF MADNESS. Ich widerspreche dem. Das hier ist nicht Carpenter auf dem Weg zu seinem Schlechtesten: vielmehr ist das hier schlicht und ergreifend sein schlechtester Film!
Mit seiner Verzahnung aus 1990er-Jahre-Ironie und postmoderner Dekonstruktion der Erzählung schafft IN THE MOUTH OF MADNESS eine Gruselgeschichte, die nicht gruselig ist, weil sie eh nur „Dekonstruktion“ ist, und zugleich eine Dekonstruktion, die sich als besonders originell geben möchte, aber nicht merkt, dass das Genre der „Dekonstruktion“ seine eigenen Klischees hervorbringt. Kurz: der Film war zumindest für mich einfach nur vollkommen egal. Überhaupt fällt es mir schwer, mich an irgendwelche Bilder zu erinnern. Carpenters Handschrift scheint mir recht abwesend zu sein, und man erkennt sie am ehesten beim „Übergang“ des Protagonisten in die jenseitige Welt, als er durch die schwarze Nacht fährt und dabei einen unheimlichen Radfahrer trifft...
Aber das ist auch schon alles! IN THE MOUTH OF MADNESS ist vielleicht der einzige Film in Carpenters Werk, bei dem ich erst einmal wirklich keine Lust verspüre, mich in näherer Zukunft damit wieder auseinanderzusetzen.


DARK STAR (1974)
9. April – 4. Sichtung
„Warten auf Godot“ im Weltall... (O-Ton Carpenter selbst) – oder: Die Besatzung eines Raumschiffs kämpft mit tödlicher Langeweile, neckischen Gummiballon-Aliens und redseligen Atombomben.
DARK STAR war jetzt ein paar Jahre der „nette kleine Geheimtipp“ und besonders bei meiner dritten Sichtung (März 2015) sah ich ihn sogar als potentiell „großen Carpenter“. Ich weiß nicht warum, aber dieses Mal hat er mir einen Tick weniger gefallen. Trotz der kurzen Dauer schienen mir viele Szenen etwas zu sehr in die Länge gezogen. Die träumerische Melancholie, die mir beim letzten Mal so gefallen hatte, war nicht mehr so greifbar. Trotzdem: immer noch ein sympathischer, entspannter Film, und lieber als jeder einzelne Teil der ALIEN-Teile ist er mir auch. Vielleicht eine Frage der Tagesform.


THE WARD (2010)
17. April – Erstsichtung
Eine pyromanische junge Frau wird in eine Psychiatrie eingewiesen, wo der böse Geist einer ehemaligen Patientin ihr und ihren Mit-Insassinnen nach dem Leben trachtet.
In einer Welt leben zu müssen, in der – zumindest außerhalb Frankreichs – ein so wunderbarer Film praktisch einhellig als totaler Mist gilt, ist zutiefst deprimierend und traurig. THE WARD ist kein Meisterwerk im engeren Sinne, aber er ist unverkennbar das Werk eines Kinomeisters, der alle Register seines Fachs kennt und dabei trotzdem fast nonchalant wirkt. Man könnte auch sagen: THE WARD enthält deutliche Spuren „spät-hawks‘ianischen Feelings“.
Sicher: die Auflösung mag etwas klischeehaft und an den Haaren herbeigezogen sein und der Showdown ist nach dem sehr langsamen Aufbau schlussendlich etwas zu überstürzt. Aber wie viele Filmemacher können schon lange, leere Gänge so unheilschwanger inszenieren? Wie viele Regisseure schaffen es, auf eine derartig filmische, fast dialogfreie Weise die Grundsituation des Geschehens zu fotografieren? Und einen finalen Jumpscare mit einer kleinen Verzögerung von einigen Sekunden so effektiv hinzubekommen?
Ausgelassen tanzende Insassinnen – kurz vor dem Schreckmoment
THE WARD handelt von Frauen, die in einer extrem autoritären Psychiatrie (der Film spielt in den 1960er Jahren) eingesperrt sind, obwohl ihnen eine betreute Sozial-WG, oder ein entspannender zweiwöchiger Urlaub oder eine etwas weniger sexistische, sexuell sexuell repressive, frauenverachtende und latent gewalttätige Gesellschaft ganz gut tun würde. In dieser bedrückenden Umgebung schleicht sich dann dennoch einige „spät-hawks‘ianische“ Momente ein, unter anderem, als die Mädchen sich eine Pause gönnen, eine Rock‘n‘Roll-Platte („Run Baby Run“ von den Newbeats) auflegen und zu tanzen beginnen. Vielleicht einer der schönsten, zumindest einer der ausgelassensten und fröhlichsten Momente in Carpenters Filmographie (der aber auch jäh wieder unterbrochen wird – wir befinden uns schließlich in einem Horrorfilm). Die schönsten und dabei furchterregendsten opening credits hat THE WARD ohnehin.
Bei THE THING war das schon bemerkbar und hier wird es wieder deutlich: wenn Carpenter einem externen Komponisten mit einem Score beauftragt, haucht er ihnen offenbar vorher seinen Geist ein (mit Ausnahme von MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN, wo der Score eher an Bernard Herrmann orientiert wurde) – der wunderschöne und effektive Score des Südafrikaners Mark Kilian wirkt für mich extrem Carpenter‘ianisch (auch wenn viele das verneint haben), wie einst Ennio Morricones Score zu THE THING Carpenter‘ianisch klang.


GHOSTS OF MARS (2001)
17. April – Erstsichtung
Auf dem Planeten Mars soll ein Gefangener von einem Ort in den anderen eskortiert wird, was sich aufgrund eines roten Nebels, der die Anwohner in wilde Dekapitations-Junkies verwandelt, schwierig gestaltet.
GHOSTS OF MARS ist die kleine, verschmutzte, radioaktive Recycling-Tonne in Carpenters Œuvre: als hätte er einen Teil ASSAULT ON PRECINCT 13, einen Teil THE FOG, einen Teil THE THING, einen Teil Uran und einen Teil materialisierte Albernheit in einen Mixer gesteckt und durchgequirlt – um dann die Mischung einem anderen Regisseur zu geben...
Tatsächlich scheint GHOSTS OF MARS thematisch der absolut ultimative Carpenter-Film zu sein, eine Art Resumee seiner bisherigen Filme – und ist ästhetisch zugleich vollkommen untypisch: GHOSTS OF MARS scheint oft unruhig inszeniert, nervös, voller merkwürdiger point-of-views mit Handkamera, mit Szenen, die sich in befremdlichen Fade-Outs geradezu auflösen. Einige Wochen später merkte ich, dass dieser Ansatz bereits im Vorgänger VAMPIRES angelegt war und hier radikalisiert wurde. Ein ästhetisches Experiment, das meiner Meinung nach recht misslungen ist. Die verschachtelte Struktur (die eigentliche Handlung ist ein Flashback, in dem es dann wiederum eigene Flashbacks gibt – die teilweise selbst „Unter-Flashbacks“ haben) wirkt zudem weniger überfordert als teils eher wie eine Parodie ihrer selbst.
Dennoch: GHOSTS OF MARS würde ich in Richtung ESCAPE FROM L.A. einordnen (tatsächlich war er ursprünglich als dritter Plissken-Film geplant). Vorwürfe eines Qualitätskinos sind hier undenkbar, eine leichte Albernheit durchzieht viele Szenen, die Macho-Atmosphäre (gleichwohl gebrochen durch die weibliche und andeutungsweise lesbische Hauptfigur) mit ihren vielen nur teils gelungenen One-Linern wirkt irgendwo zwischen ranzig und bemüht – aber irgendwie kann ich diesem Film nicht wirklich böse sein und habe ihn fast schon ein klein wenig lieb. Nun gut: Betonung auf „klein wenig“. 


MASTERS OF HORROR: CIGARETTE BURNS (2005)
7. Mai – Erstsichtung
Ein Kinobesitzer sucht nach einem Film, dessen Sichtung in Chaos, Gewalt und Mord münden soll.
Nach GHOSTS OF MARS war Carpenter angeblich kurz vor dem Zusammenbruch durch Erschöpfung und dies war seine erste Rückkehr zum Film – erst einmal im Fernsehformat. Und vieles in CIGARETTE BURNS fühlt sich ein wenig nach Fernsehformat an. Über das Niveau okay kommt er kaum je hinweg. Dass das Thema des Films im Film nicht für postmodern-ironische Uneigentlichkeits-Spielchen genutzt wird, ist eigentlich angenehm, aber Carpenter macht weder semantisch noch visuell wirklich etwas aus dem spannenden Grundthema, dass Film etwas grundsätzlich Gefährliches ist. Nur gegen Ende taucht eine wirklich tolle Idee auf: ein Filmbesessener schlitzt sich den Bauch auf, nimmt seine Gedärme raus und versucht, sie in einen Filmprojektor einzuwickeln. Ein drastischer, grausig-splatteriger Moment, vor allem aber auch ein sehr poetisches und tiefsinniges Bild über das Filmemachen und das Filmelieben (auch wenn übereifrige Tugendwächter hierzulande anderer Meinung sind).
Ansonsten: für einen einstündigen Film okay, plätschert etwas vor sich hin, aber Norman Reedus hält das ganze mit seiner charismatischen Präsenz etwas zusammen.


MASTERS OF HORROR: PRO-LIFE (2006)
7. Mai – Erstsichtung
Ein christlich-fundamentalistischer Fanatiker belagert mit seinen Söhnen eine Abtreibungsklinik, wo sich seine von Satan geschwängerte Tochter barrikadiert hat.
Der Beginn ist recht unscheinbar und könnte ein bisschen von einem beliebigen TV-Schichtarbeiter stammen. Doch die zweite Hälfte von PRO-LIFE hat es in sich und vereint alles Gute, was man von einem Ur-Carpenter‘schen Belagerungsszenario erwartet, mit einem netten kleinen Paradoxon als Beigabe (der christliche Fundamentalist, der im Grunde die Geburt des Antichristen befürwortet). Und bietet dann trotzdem noch einige Überraschungen. Der Vater (vorzüglich grimmig von Ron Perlman gespielt) ist rasch als Un-Sympath etabliert, doch wie später die Satansbrut und der Satan dargestellt wird, hat es in sich – zumal in einem Film, der nur die Episode einer Fernsehserie ist: das Biest wird erstaunlich menschlich und verletzlich dargestellt und schlussendlich gar als trauerndes Elternteil. Wie vielen Filmemachern würde es gelingen, dies zu zeigen, ohne, dass es lächerlich wirkt? Und wie Carpenter am Ende das Schicksal einer der Figuren einfach durch eine Ellipse offen lässt, hat fast schon etwas freches. Von wegen Carpenter bringt es seit Anfang der 1990er nicht mehr!


BODY BAGS (1993)
7. Mai – Erstsichtung
Rahmenhandlung: ein verrückter und recht pietätsloser Pathologe, der verdächtig wie John Carpenter aussieht (wahrscheinlich, weil er von ihm gespielt wird) brabbelt im Leichenschauhaus verwirrtes Zeug und führt die drei Episoden ein.
„The Gas Station“: eine Studentin wird bei ihrem Nachtjob an der Tankstelle von zweifelhaften Gestalten und einem Serienkiller belagert.
„Hair“: ein Mann in den „besten Jahren“ mit leichten Geheimratsecken probiert ein Wundermittel gegen Haarausfall, das drastische Nebenwirkungen hat.
„Eye“ (inszeniert von Tobe Hooper): nach einer Augentransplantation bekommt ein Ex-Baseballspieler furchterregende Visionen und mörderische Impulse.
Belagerung des Tankstellen-Kassiererhäuschens: hier ein penetranter,
aber noch harmloser Kunde
Carpenter auf Fernsehformat ist gewissermaßen die Belagerung eines Tankstellen-Kassiererhäuschens und die Episode „The Gas Station“ bietet mit seinem nächtlichen Serienmörder-Belagerungsszenario in knapp einer halben Stunde ein funkelndes Stück Carpenter-Essenz: trotz der albern-selbstironischen Rahmenhandlung 100 % straight, von der ersten Minute an spannend, voller Unheil in jeder Ecke des Bildes – und auch zusammengestaucht auf das Format 1.33:1 schlägt sich Carpenter überaus tapfer (sehr geschickt baut er einige Bildkompositionen statt in der Horizontale in der Vertikale auf).
„Hair“ präsentiert in den ersten Momenten etwas, was wie eine manische Screwball-Komödie im übersteuerten Camp-Modus wirkt und zugleich auch wie eine hintergründige Satire auf Männlichkeitsfantasien. Ein wunderbarer Stacy Keach –
...ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: eine sträflich unterschätzte Qualität Carpenters ist jene, oftmals das Beste aus seinen Schauspielern herauszubekommen. Ja, es gibt einige schwache Filme in seiner Filmographie, doch abgesehen von vielleicht DARK STAR, wo die Darsteller manchmal etwas hölzern wirken, fiele mir spontan kein Carpenter-Film mit schlechten Darstellern ein. Die Sorgfalt reicht bis zu den Nebendarstellern, die oft sehr charaktervoll und charismatisch sind – man denke nur an Charles Cyphers, der gleich sechs frühe Carpenter-Filme mit seinem unvergesslichen Gesicht veredelte, oder Frank Doubleday, ohne dessen markante Präsenz weder ASSAULT ON PRECINCT 13 noch ESCAPE FROM NEW YORK denkbar wären.
– ein wunderbarer Stacy Keach also jammert sich durch den Beginn der Episode, weil sein Haupthaar schwindet und legt seiner Freundin das ganze als absolut ultimative existentielle Krise dar. Als er seine Kur bei einem zwielichtigen Arzt bekommen hat, weicht die absurde Screwball-Komödie einem bizarren Fetisch-Groteske: dieser Mann findet fast schon erotisches Vergnügen an seinen neuen, Rockstar-mäßig langen Haaren (das hat fast schon was von einem Cronenberg-Film, den Cronenberg nie drehte) – ein bisschen lustig ist das schon, wenn Stacy Keach mit, ähm, „Haarteil“ quietschvergnügt vor dem Spiegel steht und sich bewundert. Dann endet das ganze mit einem typischen Carpenter-Invasions-Szenario (die Haarimplantate waren Alien-Dinger, die nun das Gehirn des eitlen Mannes übernehmen).
Die von Tobe Hooper gedrehte Episode „Eye“ ist übrigens auch toll, und Mark Hamill bekam dann wiederum von Carpenter später die schöne und tragische Rolle des Gemeindepriesters in VILLAGE OF THE DAMNED.

Ein Toupet sieht nicht schick aus, stattdessen gibt es neue Haare beim Wunderdoktor
– mit streitbaren ästhetischen Ergebnissen und schrecklichen Nebenwirkungen

SOMEONE‘S WATCHING ME! (1978)
7. Mai – Erstsichtung
Eine junge Frau wird von einem Telefon-Stalker bedroht.
In Form und Inhalt ist der TV-Film SOMEONE‘S WATCHING ME! Carpenters allerreinster „Hitchcock-Film“: ohne die vielen Implikationen über Voyeurismus und vielleicht ein bisschen länger, als es ihm gut tut. Solide, wenngleich nicht übermäßig originelle Thriller-Kost.
Ein bemerkenswertes Detail ist sicherlich, dass Adrienne Barbeaus Nebenfigur, eine Arbeitskollegin der Protagonistin, bei einem kurzen Dialog als lesbisch präsentiert wird – das aber im Verlauf des Films nicht mehr die geringste Rolle mehr spielt. Sie ist einfach nur da und hilft dann auch der Protagonistin im Kampf gegen den Stalker. Ein wundervoller Respekt für eine Nebenfigur – wie Brian De Palma das ganze schamlos ausgeschlachtet hätte, ist gut vorstellbar.


STARMAN (1984)
22. Mai – Erstsichtung
Ein hochentwickelter Alien reist mit einer Frau in Gestalt ihres verstorbenen Mannes durch die USA, um sein Raumschiff nach Hause noch rechtzeitig zu bekommen.
Der Starman und Jenny beim Abendessen: Carpenters schönstes Paar
STARMAN wird oft als Carpenters „Entschuldigung“ für die nihilistischen Gewalt-Exzesse von THE THING interpretiert. Ich würde es etwas positiver formulieren: STARMAN ist die B-Seite von THE THING. Den größeren Gegensatz sehe ich eher zu HALLOWEEN, insofern das Roadmovie um das Alien im menschlichen Körper Carpenters wärmster Film ist. Wo in anderen Carpenter-Filmen (und teils auch hier) Menschen oft unmenschlich sind, zeigt er hier, dass man kein Mensch sein muss, um menschlich zu sein. 
Die Mischung aus SciFi, Liebesfilm, Roadmovie und Paranoia- und Verfolgungsthriller ist insgesamt gelungen, auch, wenn ich mir von letzterem etwas weniger gewünscht hätte und dafür ein wenig mehr Roadmovie und Liebesfilm. Es gibt, nach meinem Geschmack, zu viel Plot, zu viele Wendungen, zu viele Verfolgungsmomente. Dafür erscheinen die Szenen, in denen die beiden Protagonisten einfach nur sich selbst und miteinander sein können, mit dieser langsam entstehenden Freundschaft und schließlich Liebe, zu kurz. An Karen Allen und Jeff Bridges wäre das bestimmt nicht gescheitert!
Das ist freilich Jammern auf hohem Niveau. Und wer kann schon einem Film widerstehen, der solche Dialoge hat:
– „Stay clear of that bozo.“
– „Define bozo!“
– „Jerk.“


VAMPIRES (1998)
28. Mai – Zweitsichtung (erste ungekürzte Sichtung)
Vampirjäger jagen Vampire und besonders den Obervampir.
VAMPIRES sollte etwas besonderes sein: nämlich John Carpenters einziger „wirklicher“ Western (ASSAULT ON PRECINCT 13 und später auch GHOSTS OF MARS kommen dem recht nahe und mit viel Fantasie könnte man THE THING als Schnee-Western lesen)! Doch spätestens nach einer Dreiviertelstunde ertappte ich mich dabei, wie ich etwas ungeduldig auf die Uhr schaute. Es gibt keinen Zweifel daran, dass es unendlich viel Spaß macht, James Woods in einer schönen Hauptrolle zu sehen. Und trotzdem ist dieser Film eine Enttäuschung. Ästhetisch mixt er auf sehr uneinheitliche Weise den typisch minimalistisch-ruhigen Carpenter-Stil und ein Herumexperimentieren mit merkwürdigen Überblendungen und Fade-Outs – ohne, dass das auch nur annähernd harmonieren oder gut aussehen würde. 
VAMPIRES ist nicht nur enttäuschend, sondern auch schmerzhaft. Es ist ein Film, bei dem man sich ehrlich wünscht, er sei besser geworden.


ELVIS (1979)
29. Mai – Erstsichtung
Elvis, wie er leibt, lebt und legendet.
ELVIS hat den Atem eines wahren Epos und dabei doch eine kammerspielartige Intimität. Dabei wartet er mit einer tollen Überraschung auf: Kurt Russell – der zur gleichen Zeit als Elvis absolut perfekt und, durchaus im guten Sinne, „fehlbesetzt“ ist. Russell legt, besonders in der ersten Hälfte, seinen Elvis erstaunlich androgyn an, spielt ihn mit einer großen Künstlichkeit und sieht eher wie ein Elvis-Imitator als wie Elvis aus – damit sorgt er für eine sehr erfrischende Irritation. Später (also auch bei zunehmender Legendenbildung) wird Russell immer „natürlicher“, nähert sich dabei paradoxerweise immer mehr der Legende Elvis an, bis man stellenweise fast denkt, dass der „King“ höchstpersönlich da steht. Das ist eine grandiose Leistung von Kurt Russell, und dass Carpenter ihn später für viele weitere Filme verpflichtete, ist kein Wunder.
Jenseits von Russell hat ELVIS, besonders im ersten Drittel, einige schier magische Filmmomente: wenn ein Autokorso in den opening credits zu fetzigem Rock‘n‘Roll durch die Wüste von Nevada fährt – wenn Klein-Elvis durch einen scheinbar magisch belebten Herbstwald voller fallender Blätter rennt – wenn Teen-Elvis auf dem Rasen im Pausenhof seine Gitarre nimmt und zu singen anfängt.
Trotz der scheinbaren Exzentrik im Gesamtwerk ist ELVIS ein geradezu Ur-Carpenter‘ianischer Film über Belagerung und Isolation. Ein Film über eine Märtyrer-Figur, die von hysterischen Fans belagert wird und zwischen Mensch-Sein und Legenden-Sein auch zunehmend im Kreise seiner Freunde und seiner Familie isoliert wird. ELVIS ist dennoch nicht ohne Makel. Mit zunehmender Laufzeit funktioniert er doch etwas zu sehr wie ein typisches Biopic (Kindheit, Aufstieg, Glorie, Fall, Wiederauferstehung) – wobei sich natürlich die Frage stellt, inwiefern der Film selbst ein Klischee geformt hat, dass es so damals noch nicht gab. Unbemerkt blieb ELVIS keineswegs: ich kann mir nicht vorstellen, dass James Mangold Carpenters Film in Vorbereitung zu seinem Johnny-Cash-Biopic WALK THE LINE nicht gesehen hat. 
Mit 163 Minuten ist ELVIS der längste Film in Carpenters Filmographie, die ansonsten keinen einzigen Film über zwei Stunden enthält (und die meisten sind den anderthalb Stunden näher als der 120-Minuten-Marke) – vielleicht einen Tick zu lang. Trotzdem unter den eher unbekannteren Werken des Meisters ein sehenswerter Film.

Klein-Elvis rennt durch einen belebten Herbstwald
Teen-Elvis singt auf dem Pausenhof

ASSAULT ON PRECINCT 13 (1976)
30. Mai – 6. oder 7. Sichtung
Ein Polizist, zwei Polizeisekretärinnen und zwei Schwerverbrecher werden in einer Polizeistation von einer Gang belagert.
Was gibt es viel über dieses Wunderwerk zu sagen? Über diesen Film, der mit jeder neuen Sichtung neues Erstaunen über seine Brillanz hervorruft, und dabei doch immer wieder Neues entdecken lässt.
So etwa der erste Angriff – ein Moment des puren Kinos: mit Schalldämpfern schießen die Gangmitglieder auf das Gebäude, und fast lautlos wird alles im Empfangsraum der Polizeistation zerbrochen oder durch die Luft gewirbelt... Ein Moment, der fast noch spektakulärer ist als die späteren, „richtigen“ Angriffe.
Napoleon und Leigh: das schönste Paar in Carpenters Filmographie,
das nicht zusammen kommt
Dieser wunderschöne „kleine“ Augenblick, bei dem ich tatsächlich drei Mal zurückspulen musste: Napoleon fragt Lieutenant Bishop, ob dieser eine Zigarette für ihn habe, und als dieser mit „No [kurze Pause] I‘m sorry“ antwortet, verliert Napoleon kurz, aber doch sichtlich die Fassung, weil sich eben ausgerechnet ein Polizist bei ihm entschuldigt hat. ASSAULT ON PRECINCT 13 wird oft als Carpenters RIO BRAVO bezeichnet. Wenn Hawks‘ Meisterwerk tatsächlich ein Film darüber ist, wie ein heruntergekommener Mann (Dude – Dean Martin) seine Würde wiederfindet, dann ist ASSAULT ON PRECINCT 13 auch ein Film darüber, wie ein Krimineller mit legendärer Aura (Napoleon Wilson – Darwin Joston) wieder zu einem respektierten, gesellschaftlich integrierten und „normalen“ Menschen wird – wenn auch unter außergewöhnlichen Umständen. Und am Ende aufrecht stehend und gleichberechtigt mit einem Polizisten in die Morgendämmerung hinausläuft.
Und dann auch diese sexuelle Spannung zwischen Leigh und Napoleon: sie war natürlich schon immer da, aber bei dieser Neusichtung spürte ich Funken sprühen wie nie zuvor.

Und jetzt zum Dessert...
(John Carpenter als verrückter Pathologe in BODY BAGS)

John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Die großen Überraschungen:
– VILLAGE OF THE DAMNED
– THE WARD
– BODY BAGS


John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Die großen Enttäuschungen:
– IN THE MOUTH OF MADNESS
– VAMPIRES
– CHRISTINE


John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Eine persönliche und provisorische Präferenzliste:

1 MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN


2 ASSAULT ON PRECINCT 13
– ESCAPE FROM NEW YORK


3 THEY LIVE

4 THE THING


5 THE FOG

6 VILLAGE OF THE DAMNED

7 THE WARD

8 BODY BAGS


9 PRINCE OF DARKNESS

10 STARMAN

11 HALLOWEEN

12 ELVIS


13 SOMEONE‘S WATCHING ME!

14 DARK STAR


15 ESCAPE FROM L.A.

16 CHRISTINE

17 PRO-LIFE


18 GHOSTS OF MARS

19 CIGARETTE BURNS

20 BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA


21 VAMPIRES


22 IN THE MOUTH OF MADNESS

Sonntag, 3. Juli 2016

Pinguine in der Bronx

FIVE CORNERS (dt. PINGUINE IN DER BRONX)
Großbritannien/USA 1987
Regie: Tony Bill
Darsteller: Jodie Foster (Linda), Tim Robbins (Harry), John Turturro (Heinz), Todd Graff (James), Rodney Harvey (Castro), Daniel Jenkins (Willie), Elizabeth Berridge (Melanie), Cathryn de Prume (Brita), Carl Capotorto (Sal), John Seitz (Inspector Sullivan), Gregory Rozakis (Mazola), Kathleen Chalfant (Harrys Mutter), Rose Gregorio (Heinz' Mutter), Eriq La Salle (Samuel Kemp)

Many thanks to the Penguins in this film. They were treated most respectfully and no harm ever came to them in their work. (aus den Credits)

Pinguine in der Bronx
Ein Mathematiklehrer hat einen Stapel Prüfungsarbeiten vor sich, die er reihenweise mit dem Stempel "Durchgefallen" versieht. Nach getaner Arbeit packt er seine Sachen zusammen und geht mit seiner Aktentasche forschen Schritts durch die Straßen der Bronx. Ein Pfeil schwirrt heran und trifft ihn in den Rücken. Der Lehrer bricht zusammen und haucht sein Leben aus. Das ist der - gelinde gesagt - ungewöhnliche Auftakt von FIVE CORNERS.

Ein Lehrer wird zur Strecke gebracht
Five Corners ist eine Ecke in Van Nest, das wiederum ein Viertel in der New Yorker Bronx ist. Es ist ein kleinbürgerliches Viertel - man kennt sich gegenseitig, und man geht (meistens jedenfalls) respektvoll miteinander um. Hier tragen sich an zwei Tagen im Herbst 1964 einige bemerkenswerte Dinge zu. - Zunächst also der Mord an dem Lehrer. Die Polizei in Person von Inspector "Bigfoot" Sullivan und seinem Partner Mazola vom 33. Revier steht vor einem Rätsel. Die Bronx war ja mal Indianergebiet, bevor hier die ersten holländischen Siedler auftauchten. Sollte es hier etwa noch Indianer geben? Aber nein, die Idee ist zu abwegig und wird verworfen. Doch wer war es dann?

Linda und James
Noch eine Nachricht macht die Runde: Heinz ist wieder da. Der allseits bekannte und unbeliebte Psychopath Heinz Sabantino war einige Zeit im Gefängnis, weil er versucht hatte, Linda zu vergewaltigen, eine Verkäuferin in der Zoohandlung ihres Vaters. Lindas Freund James hatte damals versucht, sie zu beschützen, doch er war Heinz hoffnunglos unterlegen und trug aus der Begegnung eine steife Hüfte davon. (In den üblichen Quellen wird er "Jamie" genannt, aber wenn ich nichts überhört habe, fällt diese Koseform des Namens im Film kein einziges Mal, und in den Credits am Ende steht auch "James" und nicht "Jamie".) Gestoppt wurde Heinz erst durch Harry, damals ein rustikaler Schläger. Er zog Heinz mit dem Bierkrug einen Scheitel, und damit war die Angelegenheit beendet. - Nun ist Heinz also wieder da, und er wohnt wieder bei seiner alleinstehenden Mutter, die in hellen Momenten schrullig und in weniger hellen Momenten nicht mehr ganz dicht ist. Linda befürchtet - zu Recht, wie sich bald zeigt -, dass Heinz sein unvollendetes Werk fortsetzen und sich erneut an sie heranmachen wird. James ist wie damals bereit, sie zu verteidigen, doch Linda fürchtet um seine Gesundheit und gibt ihm deshalb kurzerhand den Laufpass, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen, was er aber keinesfalls akzeptieren will. Linda sucht aber lieber erneut Hilfe bei Harry, doch der hat sich radikal geändert. Nachdem sein Vater, ein Polizist, im Dienst erschossen wurde, hat Harry unter dem Einfluss der Reden von Martin Luther King der Gewalt abgeschworen. Mehr noch, er hat sich der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen und will in wenigen Tagen nach Mississippi fahren, um dabei mitzuhelfen, Schwarze als Wähler zu registrieren, gegen den erheblichen Widerstand der weißen Bevölkerung und der lokalen Behörden. So vertröstet er Linda nur und meint, dass schon nichts passieren wird.

Harry, Buddha und Heinz - unverhofftes Wiedersehen
Um seine Mitwirkung an der Kampagne in Mississippi zu sichern, fährt Harry nach Harlem und trifft sich mit zwei schwarzen Aktivisten. Mit dem einen ist er schon befreundet, doch der Wortführer, Samuel Kemp, ist ein kühler Intellektueller, der den "reichen Harvard-Schnösel" sehr herablassend behandelt. Kemp (ein fiktiver Charakter) hat schon mit dem radikalen Stokely Carmichael (der in seiner Jugend in Van Nest lebte) zusammengearbeitet, und dass er mit seiner Brille äußerlich an Malcolm X erinnert, ist vielleicht auch kein Zufall. Harry hat es also schwer, akzeptiert zu werden, doch als er klarstellt, dass er weder reich noch Harvard-Absolvent ist, und als er die Gründe für seine Wandlung darlegt, taut Kemp etwas auf - vielleicht gibt es doch eine Basis zur Zusammenarbeit. Harrys Mutter wäre aber das Gegenteil lieber, denn sie hat Angst um ihren Sohn, den sie nicht auch noch verlieren will, nachdem sie schon Witwe ist. Gerade kam nämlich im Fernsehen die Nachricht, dass in Mississippi die Leichen von drei wochenlang vermissten jungen Bürgerrechtsaktivisten, einem Schwarzen und zwei Weißen, aufgefunden wurden. Wie sich bald erwies, wurden sie von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans unter tatkräftiger Mithilfe der örtlichen Polizei ermordet. Es handelt sich um jenen realen Mordfall, der auch Alan Parkers MISSISSIPPI BURNING zugrunde liegt.

Heinz Sabantino ...
Parallel zur Haupthandlung um Linda, Heinz, Harry und James gibt es in FIVE CORNERS einen zweiten Handlungsstrang, der sich nur sporadisch mit dem ersten überkreuzt. Sal kurvt in seinem roten Cabrio durch Van Nest, seine Verlobte Melanie und deren Freundin Brita auf dem Rücksitz. Die beiden aufgebrezelten Mädels werfen ständig Pillen ein und schnüffeln Klebstoff, so dass Sal, eigentlich kein Kind von Traurigkeit, schließlich gewaltig genervt davon ist, dass die beiden pausenlos zugedröhnt sind. So lädt er sie kurzerhand auf der Straße bei den beiden schrägen Teenagern Castro und Willie ab, denen er noch fünf Dollar dafür zahlt, dass sie ihm die beiden vorübergehend abnehmen. Am nächsten Morgen wachen Melanie und Brita nackt in einer ihnen fremden Wohnung auf, ohne sich an viel zu erinnern, doch sie nehmen es sportlich, und schon werden sie wieder von Castro und Willie aufgegabelt. Die beiden haben schulfrei, weil gerade ihr Lehrer ermordet wurde, wie sie erzählen. Die vier ziehen also zusammen durch die Gegend und erkunden dabei den Fahrstuhlschacht eines Wohnhauses. Zu einer Arie aus der Oper Lakmé von Léo Delibes (gesungen von Joan Sutherland in einer Aufnahme von 1967) entwickelt sich in dieser sehr schönen Szene fast so etwas wie ein vertikales Fahrstuhl-Ballett, und am Ende erinnert es etwas an die Fahrstuhlszene in John Carpenters DARK STAR. Aber ebenso wie bei Carpenter geht es auch hier gut aus. Sal ist inzwischen auf der Suche nach den für ihn verschollenen Mädels, und er will sogar die Polizei einschalten, wird aber abgewimmelt. Schließlich findet er die vier in einer Bowlinghalle. Nach einem veritablen Krach mit Melanie, der nicht entgangen ist, dass sie für fünf Dollar sozusagen verkauft wurde, versöhnen sich die beiden wieder.

... und seine Mutter
Die Haupthandlung nimmt Fahrt auf, als Heinz spät abends bei Linda anruft und sie zu einem mitternächtlichen Rendezvous am Brunnen, einem großen Bassin mit Wasserfontänen, auffordert. Er will ihr dort ein Geschenk überreichen. Linda lehnt natürlich ab, doch Heinz droht unverblümt, James etwas anzutun, so dass sie nun doch zusagt. Bevor sie sich auf den Weg macht, will sie Harry anrufen, damit er auch zum Brunnen kommt, doch sie erreicht nur seine Mutter, weil Harry noch nicht von seinem Treffen in Harlem zurück ist. So trifft sie sich also mit sehr mulmigem Gefühl allein mit Heinz. Und der packt sein Geschenk aus - zwei Pinguine, die er im Zoo der Bronx geklaut hat. Linda findet die im Bassin planschenden Vögel für einen Moment sehr süß, doch schnell ist sie wieder in der Realität. Sie eröffnet Heinz, dass sie das Geschenk nicht annehmen kann, weil die Pinguine wieder in den Zoo müssen, sonst würden sie nicht lange überleben. Und nun erweist sich Heinz als wahrer Psychopath. Weil Linda sein Geschenk abgelehnt hat, schlägt er einen der Pinguine mit einem Knüppel zu Brei. Linda ist in einer Mischung aus Ekel, Wut und Angst zur Salzsäule erstarrt. Und Heinz fragt, ob sie denn nun wenigstens den anderen Pinguin annehmen will. Natürlich will sie. Als Heinz zum Dank für das "Geschenk" einen Kuss und dann noch einen fordert, zieht sie nun ihm mit dem Knüppel eins über die Rübe und flieht mit dem verbliebenen Pinguin. Heinz ist vorerst zu benommen, um ihr zu folgen.

Melanie, Brita und Sal kurven durch Van Nest
Linda lädt den Pinguin vorübergehend bei James ab und will dann mit der U-Bahn zu ihrer Tante fahren, weil sie sich in ihrer Wohnung nicht sicher vor Heinz fühlt. James begleitet sie zur U-Bahn-Station, doch Heinz hat sich inzwischen wieder aufgerappelt, und die beiden laufen ihm genau in die Arme. Er schlägt Linda K.O. und entführt sie, während James durch das Sperrgitter abgehängt wird. Unterdessen wurde der zurückgekehrte Harry von seiner Mutter verspätet über Lindas Anruf informiert. Mit seinem Bernhardiner "Buddha" macht er sich auf den Weg zum Brunnen, kommt aber zu spät und schaltet deshalb die Polizei ein. Weil sein Vater einst Inspector Sullivan das Leben gerettet hat, wird er nicht abgewimmelt, sondern ernst genommen, und Sullivan, Mazola und Harry entdecken am Brunnen den zermatschten Pinguin. Vorübergehend taucht die Frage auf, ob es in der Bronx womöglich auch noch Eskimos gibt, doch bald herrscht Klarheit, denn James erscheint auch auf dem Polizeirevier und meldet die Entführung. Neben den üblichen polizeilichen Maßnahmen wird jetzt auch Buddha als Spürhund eingesetzt, und tatsächlich findet er Heinz und Linda recht schnell, aber das geht erst mal schlecht für Mazola aus. Heinz bringt die bewusstlose Linda in seine Wohnung, wo er eine Art Aussprache (wenn man das so nennen will) mit seiner Mutter hat, die ziemlich bizarr endet. Am Schluss sind Linda, Heinz, Harry und James auf dem flachen Dach des Nebenhauses versammelt, das inzwischen von der Polizei umstellt ist. Die nach wie vor weggetretene Linda liegt direkt am Rand und droht bei einer falschen Bewegung in den Tod zu stürzen, James ist mit seiner steifen Hüfte Heinz noch hoffnungsloser unterlegen als beim ersten Mal, und Harry steht sich mit seiner Gewaltlosigkeit selbst im Weg. So kommt es auf dem Dach zu einem recht ungewöhnlichen Showdown. Und am Ende schwirrt wieder ein Pfeil durch die Luft ...

Samuel Kemp, rechts Malcolm X im März 1964 - Ähnlichkeit vermutlich beabsichtigt
(rechtes Teilbild: Public Domain, Quelle: Wikipedia)
In den ersten Minuten der Szene mit Sal, Melanie und Brita im roten Cabrio scheint sich FIVE CORNERS in die Richtung eines knallbunten Nostalgiefilms à la AMERICAN GRAFFITI zu entwickeln, doch dieser Eindruck verflüchtigt sich schnell. FIVE CORNERS ist etwas anderes - er ist vielschichtiger und tiefgründiger. Dass es sich um keinen solchen Nostalgiefilm handelt, sieht oder vielmehr hört man auch am Soundtrack. Zeitgenössische Pop- oder Rocksongs sind nämlich nur spärlich vorhanden. Im Vor- und Abspann ertönt jeweils "In My Life" von den Beatles, in Harrys Zimmer spielt ein Radio oder Plattenspieler kurz "The Times They Are A-Changin'" von Bob Dylan, und in der besagten ersten Cabrio-Szene kommen zwei oder drei Songs aus dem Autoradio - und das war es dann schon fast. Stattdessen schrieb James Newton Howard, damals noch ziemlich am Anfang seiner erfolgreichen Laufbahn als Filmkomponist, einen atmosphärisch stimmigen Score, der gerade auch die düsteren und dramatischen Aspekte der Geschichte betont.

Harrys Mutter, rechts die Eltern des Mordopfers Andrew Goodman im Fernsehen
Neben den Protagonisten der beiden Handlungsstränge gibt es noch eine Reihe von Nebenfiguren, die teilweise recht skurril und durchweg positiv gezeichnet werden, wie die beiden alten jüdischen Lebensmittelhändler Murray und George (offensichtlich ein Brüderpaar). Tatsächlich sind Heinz und der schnell dahingeschiedene Mathelehrer die einzigen wirklich negativen Figuren im Film. Trotz oder vielleicht gerade wegen bestehender kultureller Unterschiede geht man, wie schon erwähnt, respektvoll miteinander um. Familiennamen wie Kompelski (Linda), Fitzgerald (Harry) und Sabantino (Heinz) sind dezente Hinweise auf jüdische/osteuropäische, irische und italienische Herkunft vieler Einwohner des Viertels. Die Eigenschaft, ein kultureller Schmelztiegel zu sein, die ja New York insgesamt nachgesagt wird, gilt offenbar auch im Kleinen für Van Nest. (Wie Heinz zu seinem für Italiener ebenso wie für Amerikaner ungewöhnlichen Vornamen kam, wird übrigens nicht erörtert.) Gelegentlich wird die räumliche Nähe der Geschehnisse in FIVE CORNERS durch die Kameraarbeit betont, wenn von einem Schauplatz oder einer Personengruppe des einen Handlungsstrangs durch einen nur kleinen Schwenk zum anderen Strang übergeleitet wird, ohne dass sich die Handlungsfäden wirklich überkreuzen (was, wie auch schon erwähnt, nur sporadisch geschieht). Durch all diese Figuren und Stilmittel verdichtet sich FIVE CORNERS auch zu einem humanistisch und liebevoll gezeichneten Portrait eines kleinen Viertels in einer großen Stadt. Damit steht der Film in einer Tradition, die (mindestens) bis zu René Clairs UNTER DEN DÄCHERN VON PARIS zurückreicht. Hauptverantwortlich dafür war Drehbuchautor John Patrick Shanley, der in Van Nest aufgewachsen ist und Kindheits- und Jugenderinnerungen in sein Script einfließen ließ. Shanley bekam 1988 einen Oscar für sein Drehbuch zu MOONSTRUCK mit Cher und Nicolas Cage, und vor einigen Jahren ging er unter die Regisseure, indem er sein eigenes preisgekröntes Bühnenstück Doubt erfolgreich mit Meryl Streep und Philip Seymour Hoffman verfilmte.

Murray und George in ihrem Lebensmittelladen
Nicht nur Heinz sorgt dafür, dass FIVE CORNERS nicht im Idyll versandet, auch die Verankerung des Films im politischen Zeitgeschehen des Jahres 1964 ist dafür verantwortlich. Die Konfrontation zwischen Bürgerrechtlern und reaktionären Rednecks in den Südstaaten spielt eine wichtige Rolle, auch wenn sie sozusagen nur indirekt präsentiert wird. Ganz am Anfang, noch vor dem Mord am Lehrer, sieht man kurz Harry, wie er im Fernsehen einen (echten, nicht nachgestellten) Auftritt von Martin Luther King ansieht, später im Film verfolgt seine Mutter einen (ebenfalls authentischen) Bericht über die Auffindung der drei Leichen in Mississippi. Darin sind auch die Eltern des Mordopfers Andrew Goodman zu sehen, die die Freunde und Gleichgesinnten ihres Sohns auffordern, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern ihr Engagement fortzusetzen. Dazu kommt Harrys Gespräch in Harlem über seine Mitwirkung und die ablehnende Reaktion seiner Mutter darauf. FIVE CORNERS arbeitet hier also mit sparsamen Mitteln ein ernstes Thema heraus, anders als etwa MISSISSIPPI BURNING, der die Atmosphäre der Konfrontation in den Südstaaten mit martialischen Breitseiten heraufbeschwört (oder auch ziemlich verfehlt, wie Jonathan Rosenbaum in einem heftigen, aber gut begründeten Verriss schrieb). Den Gegenpol zu Harrys politischem Engagement, für das Heinz nur ein kurzfristiger Störfaktor ist, bildet der Präsidentschaftswahlkampf des ultra-konservativen Barry Goldwater, der im Film auch kurz und dezent angerissen wird. (Die Verantwortlichen für die dt. Untertitel auf meiner DVD waren auf dem zeitgeschichtlichen Terrain nicht besonders firm. Sie machten aus Stokely einen Stopley Carmichael, und aus der Politik von Goldwater wurde eine Coldwater-Politik. Schluss mit den Warmduschern, oder was hatten diese Leute da im Sinn? Es finden sich noch mehr Klöpse, so wurde aus der Fordham University, die Harry besucht hat, eine Fortim University.)

Melanie (links), Brita und Willie beim Bowling
Es steckt also viel drin in diesem kleinen Film. Aber wieso eigentlich "kleiner Film"? Immerhin spielen ja Jodie Foster, Tim Robbins und John Turturro die Hauptrollen. Doch von denen war damals nur Foster ein Star, spätestens seit 1976, als sie in BUGSY MALONE, TAXI DRIVER und THE LITTLE GIRL WHO LIVES DOWN THE LANE gleich drei prägnante Rollen hatte. Tim Robbins dagegen hatte zwar unmittelbar vor FIVE CORNERS schon in HOWARD THE DUCK und TOP GUN mitgespielt, aber seine großen Erfolge wie ERIK THE VIKING, JACOB'S LADDER, BOB ROBERTS und THE PLAYER kamen erst danach. Und auch John Turturro hatte schon einige mittelgroße Rollen gespielt, aber sein endgültiger Durchbruch, vor allem mit MILLER'S CROSSING und BARTON FINK von den Coen-Brüdern, erfolgte erst nach FIVE CORNERS. Tony Bill und der für das Casting zuständige Doug Aibel hatten also ein gutes Händchen, und zwar nicht nur, was die zukünftigen Star-Qualitäten ihrer Darsteller betraf, sondern auch in Bezug auf ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Sie sind nämlich alle famos in ihren Rollen. Das gilt auch für Todd Graff, der als der etwas zappelige, aber sehr mutige James keineswegs hinter seine heute bekannteren Kollegen zurückfällt. Auch die Chemie untereinander stimmt, und so ergibt sich eine sehr erfreuliche Ensemble-Leistung. Wenn man aber einen herausgreifen müsste, dann wohl Turturro, denn sein Heinz ist eine Schau. Mit flackerndem Blick und gelegentlich linkischen Bewegungen, wirkt er doch nie lächerlich, und am Ende hat man fast noch Mitleid mit dem Monster.

Nächtliches Rendezvous am Brunnen (mit Pinguin im Sack)
FIVE CORNERS ist durch und durch amerikanisch, und doch ist es offiziell ein britischer Film, denn produziert wurde er von George Harrisons HandMade Films. Diese Firma entstand aus der Not heraus, aber nicht Harrisons Not, sondern die der Monty Pythons. Die steckten gerade in der Produktion von LIFE OF BRIAN, da las irgendjemand bei der EMI, die den Film eigentlich produzieren sollte, das Drehbuch, bekam einen gehörigen Schreck, und der Konzern zog sich aus der Finanzierung zurück. Der ganze Film stand nun auf der Kippe, da sprang der Ex-Beatle und Monty-Python-Fan Harrison ein. Mit seinem damaligen Finanzberater und Geschäftspartner Denis O'Brien gründete er HandMade Films, und die Firma produzierte in den darauffolgenden zehn Jahren nicht nur LIFE OF BRIAN, sondern eine ganze Reihe von meist hochkarätigen britischen Filmen (etliche davon mit Bob Hoskins und/oder Maggie Smith in Hauptrollen). FIVE CORNERS ist einer der wenigen "Ausflüge" von HandMade Films über den großen Teich, und Harrison und O'Brien sind denn auch die Executive Producers (also die mit der dicken Geldbörse) des Films. Nach ungefähr einem Jahrzehnt verlor Harrison das Interesse am Filmgeschäft, außerdem verkrachte er sich mit O'Brien, und so stellte HandMade Films vorübergehend die Tätigkeit ein und wurde dann an die kanadische Paragon Entertainment Corporation verkauft. Deren Logo ziert nun (zumindest auf meiner DVD) den Vorspann von FIVE CORNERS, ohne dass diese Firma etwas mit der Entstehung des Films zu tun gehabt hätte.

Bigfoot Sullivan - nomen est omen
Der 1940 in San Diego geborene Tony Bill war und ist (in dieser zeitlichen Reihenfolge und teilweise überlappend) Schauspieler (z.B. in ICE STATION ZEBRA und SHAMPOO), Produzent (zusammen mit zwei Kollegen Oscar für THE STING als bester Film) und Regisseur. FIVE CORNERS ist sein dritter Kinofilm als Regisseur. Es folgten noch einige mehr, aber seit Mitte der 90er Jahre hat er fast nur noch für das Fernsehen gearbeitet.

Heinz hat eine Aussprache mit seiner Mutter
Die Mischung eines schwerwiegenden Themas wie den Morden an den Bürgerrechtlern mit so skurrilen bis bizarren Figuren und Ereignissen wie in FIVE CORNERS ist vielleicht nicht jedermanns Sache, ich finde sie aber überaus gelungen. FIVE CORNERS ist ein sehr sympathischer und kurzweiliger Film! In Deutschland ist er auf zwei verschiedenen DVDs erschienen, in den USA gibt es ihn auch auf Blu-ray.

Finale auf dem Dach

Montag, 20. Juni 2016

Ein toter Soldat und ein toter Radfahrer – Tony Scotts frühe Filme

ONE OF THE MISSING
UK 1969
Regie: Tony Scott
Darsteller: Stephen Edwards (James Clavering)


Im August 1863, im Süden Georgias, während des amerikanischen Bürgerkriegs: der Soldat James Clavering wird zur Aufklärung in Feindesgebiet geschickt. Dort versteckt er sich in einer Häuserruine und beobachtet eine feindliche Einheit, die sich gerade zum Aufbruch bereit macht. Deren Artillerie verschießt kurz vor dem Weiterziehen eine überflüssige Kanonenladung und der Schuss trifft ausgerechnet die Ruine, in der sich James versteckt hat. Der Aufklärungssoldat wird unter einem Haufen Trümmer vergraben. Als er wieder aufwacht, kann er sich unter dem Geröll kaum bewegen – schlimmer: sein eigenes Gewehr, ebenfalls begraben unter Trümmern, ist direkt auf ihn gerichtet. In dem Versuch, sich aus dem Schutt zu befreien, ohne dabei das Gewehr zum Abschuss zu bringen, verliert James nach und nach den Verstand...

James Clavering in Aufklärungsmission. Ein feindlicher Kanonenschuss bringt
ihn in eine missliche Lage. (Der Soldat im Vordergrund oben rechts wird
übrigens von Ridley Scott gespielt)
1969 war der 25-jährige angehende Maler Anthony Scott ein Absolvent des Sunderland Colleges und belegte am Leeds College of Art einen Malerei-Lehrgang. In dieser Zeit trat der Künstler an den BFI Production Board heran, um sein erstes Filmprojekt, eine Adaption der Kurzgeschichte „One Of The Missing“ von Ambrose Bierce, zu finanzieren. Das British Film Institute vergab schon seit Anfang der 1950er Jahre Zuschüsse an junge Regisseure und genehmigte Scott 750 £ (die Summe wurde später auf 1100 £ erhöht) für seinen ersten Film ONE OF THE MISSING.

Scott fungierte als Regisseur, Produzent, Autor, Kameramann und Cutter. Seine Schauspieler waren allesamt Laien, die meisten von ihnen, inklusive Hauptdarsteller Stephen Edwards, Kommilitonen Scotts am Leeds College of Art. Auch Scotts älterer Bruder Ridley wirkte als Darsteller (als einer der gegnerischen Soldaten) mit. In dessen Debütfilm BOY AND BICYCLE, gedreht 1961/62, veröffentlicht 1965, hatte Tony selbst wiederum die Hauptrolle gespielt.
ONE OF THE MISSING wurde an der Filmabteilung des Leeds College fertig gestellt und erlebte seine Premiere im Januar 1969 am National Film Theatre in London. Der nicht einmal 30 Minuten lange Film wurde zu einem kleinen Hit: er gastierte auf 19 Filmfestivals und räumte dort auch zahlreiche Preise ab. Ein 35mm-Blowup (der Film wurde auf 16mm gedreht) kam schließlich in die britischen Kinos.

James gerät zunehmend in Panik
Ein britischer Kunststudent dreht einen im Amerikanischen Bürgerkrieg angesiedelten Film – und nannte einen Ungarn als größte Inspirationsquelle! Es scheint merkwürdig, dass Tony Scott, bekannt als Blockbuster-Regisseur von Hollywood-Actionfilmen, in Interviews in den späten 1960er Jahren ausgerechnet Jancsó Miklos als Vorbild nannte. Die Ähnlichkeiten liegen aber auf der Hand: in ONE OF THE MISSING wie in vielen Jancsó-Filmen laufen uniformierte Männer durch eine leere und merkwürdig abstrakte Landschaft, die zwar historisch datiert ist, aber auch völlig von Zeit und Ort enthoben zu sein scheint. Mit viel Vorstellungskraft kann man ONE OF THE MISSING als Western sehen, doch die Verortung der Situation im Amerikanischen Bürgerkrieg spielt im Grunde keine Rolle – genauso wie es auch bei Jancsó zwischen dem Post-1848-Ungarn, dem antiken Griechenland und Russland während des Bürgerkriegs nur sehr graduelle Unterschiede gibt. Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK („The Round-Up“ / „Die Hoffnungslosen“), in dem Gefangene in der ungarischen Steppe nach 1848 systematisch schikaniert, gefoltert und getötet werden, lief tatsächlich im November 1966 in den britischen Kinos. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Scott ihn in dieser Zeit sah. Neben der abstrahierten Handlung teilt ONE OF THE MISSING eine Besonderheit mit SZEGÉNYLEGÉNYEK: die zirpenden Vögel als Soundkulisse.

„Narrative frustrates me. I would like to move away from it to create an inner continuity of mood, to use costume and landscape the way Jancso does.“ Hier liegt nach Ignatiy Vishnevetsky, dessen großartigen und zutiefst leidenschaftlichen Artikel „Smearing the Senses: Tony Scott, Action Painter“ ich schon in anderen Artikeln bei Whoknows Presents zitierte, auch trotz der äußerlichen Unterschiede die Gemeinsamkeiten Jancsós und Scotts: die Abstrahierung der Handlung durch halluzinatorische Bilder – was Scott, so Vishnevetsky, in den viel geschmähten Filmen seiner späten „abstrakt-impressionistischen“ Phase erreichte (ENEMY OF THE STATE, SPY GAME, MAN ON FIRE, DOMINO, DÉJÀ VU, THE TAKING OF PELHAM 1 2 3). Und vielleicht tatsächlich gegen Ende von ONE OF THE MISSING.

James verliert schließlich den Verstand – und stirbt.
Die Unterschiede liegen bei ONE OF THE MISSING trotzdem noch etwas deutlicher auf der Hand: hier gibt es keine kunstvoll choreografierten, „tanzenden“ Plansequenzen wie bei Jancsó, sondern eher viele kurze Tableaus, ab und zu kleine Schwenks und langsame Zoom-Ins und Zoom-Outs. Abgesehen von einigen Wortfetzen im Hintergrund hat ONE OF THE MISSING keine Dialoge. Musik, in Form elektronisch verfremdeter Akkorde, gibt es nur bei den kurzen Träumen bzw. Visionen des Soldaten. Das Sound-Design des Films ist nichtsdestotrotz bemerkenswert. Erwähnt wurde bereits das Vogelgezwitscher in den Eingangsszenen, als James Clavering durch den Wald schleicht: das wirkt durch die Waldkulisse weniger befremdlich als in Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK (wo das Vogelgezwitscher besonders irritierend ist, weil: wo soll es denn Waldvögel in der nackten Steppe geben), aber dennoch extrem stilisiert. Als der Soldat unter den Trümmern begraben wird, kommt das entnervende Geräusch summender Fliegen hinzu: die Idylle der singenden Vögel war eine illusorische Idylle, jetzt übernehmen die Fliegen (die für Verfall stehen). Als der Soldat zunehmend verzweifelt und den Verstand verliert, kommt sein eigenes Stöhnen, schließlich sein Schreien hinzu.

Mit dem zunehmenden Wahnsinn löst sich ONE OF THE MISSING nach und nach auf. Zunehmend schnelle Schnittfrequenz und die verzweifelt „suchenden“ Point-of-View-Shots münden schließlich darin, dass sich die Kamera, den Soldaten im Visier, wild um die eigene Achse dreht. Die Bildauflösungen des späten, „abstrakt-impressionistischen“ Scotts, etwa in MAN ON FIRE und besonders in DOMINO, sind also wenn man will schon in ONE OF THE MISSING angelegt.


LOVING MEMORY
UK 1971
Regie: Tony Scott
Darsteller: Rosamund Greenwood (die alte Frau), Roy Evans (Ambrose), David Pugh (der junge tote Mann)



In LOVING MEMORY von 1971 ist ein anderer, späterer Film Scotts auch thematisch bereits vorweggenommen, aber dazu gleich mehr...

Ein tödlicher Unfall leitet eine außergewöhnliche Begegnung ein...
Ein junger Mann, der offensichtlich einen Botenjob hat, schwingt sich mit seiner Fracht (einer Packung Eier) auf‘s Fahrrad und radelt beschwingt los. Auf der Landstraße gerät er jedoch in einen Unfall, wird von einem Auto überfahren und ist sofort tot. Die Insassen des Autos (ein altes Paar) steigen aus, begutachten nicht sonderlich schockiert, aber dennoch etwas traurig den toten Radfahrer und verfrachten seinen Leichnam ins Auto. Ambrose und die alte Frau, deren Namen wir nicht erfahren, leben auf einem abgeschiedenen Landhaus. Er arbeitet tagsüber irgendetwas in einer Mine (offensichtlich als Ein-Mann-Unternehmen) und sie kümmert sich um den Haushalt – und nun auch um den neuen „Gast“. Den toten Radfahrer platziert sie nämlich auf einen Sessel in der Dachkammer.

Hier beginnt nun die rührend-traurige Beziehung zwischen dem toten Radfahrer und der alten Frau. Sie kann den jungen Mann von Anfang an gut leiden, denn er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit James! James ist ein Verwandter der älteren Dame (ob älterer Bruder, jüngerer Bruder oder gar Sohn, bleibt unklar) und sie lässt es sich nicht nehmen, ihrem „Gast“ vieles von James zu erzählen. Wie er in den Krieg zog (welcher Weltkrieg wird nicht klar: LOVING MEMORY spielt nicht in einer eindeutig bestimmbaren Zeit) und sein Flugzeug abgeschossen wurde – den Propeller des abgeschossenen Flugzeugs nahm der Kriegsversehrte dann mit nach Hause und hing ihn an der Decke der Dachkammer auf. Dann wurde James krank und starb schließlich. Die alte Dame sagt nicht sterben, sondern: „He slept for a long time before Ambrose took him up the hill.“ James lag also möglicherweise mehrere Tage tot im Haus, bevor er von Ambrose auf einem Hügel in der Nähe begraben wurde (offensichtlich ohne jegliche vorangehende Meldung an die Behörden).

Die alte Frau kümmert sich auf rührende Weise um ihren Gast:
wäscht ihn, trinkt mit ihm Tee, sieht sich mit ihm alte Fotoalben an...
Traurig – aber kein Grund, die Laune des neuen „Gasts“ zu vermiesen. Liebevoll bringt sie ihm jeden Morgen eine Tasse Tee (die er, seinem Zustand verschuldet, nicht austrinken kann – und deshalb sammeln sich zu seinen Füßen immer mehr unberührte Teetassen). Die alte Dame kramt auch Fotoalben von James hervor, der offenbar ein guter Hobby-Fotograf war und erzählt dem toten Radfahrer Geschichten zu den Bildern. Gleich zu Beginn leiht sie dem toten jungen Mann auch James‘ Kleidung aus, da seine ja wegen des Unfalls dreckig und zerrissen ist. Seine Brille ist zersprungen, und deshalb bekommt er James‘ Brille ausgeliehen. Die alte Frau ist von der Ähnlichkeit ihres „Gastes“ zu James so sehr hingerissen, dass sie ihm später auch James‘ Armeeuniform ausleiht. Schließlich scheint die alte Frau etwas verwirrt zu werden und beginnt irgendwann, ihren neuen Gast „James“ zu nennen. Doch die Stunde hat geschlagen, in der Ambrose den toten Radfahrer „up the hill“ bringt. Die alte Frau versucht zwar, den Flugzeugpropeller an der Decke so zu manipulieren, dass Ambrose davon, wenn er den jungen Mann abholt, erschlagen wird, aber das klappt nicht so wirklich. Und so wird denn auch der tote Radfahrer in einem Wäldchen auf einem naheliegenden Hügel neben James begraben...

...währenddessen arbeitet Ambrose tagsüber in einer Mine
– und bereitet nach der Arbeit den Sarg für den Hausgast vor.
Vielleicht eines vorweg: so unfassbar düster-morbide und latent pervers LOVING MEMORY auch klingen mag – er ist es nicht. Scott gelingt das kleine Wunder, diese heikle Geschichte überaus würdig, pietätsvoll und ohne jegliche Vulgarität als melancholische, platonische Romanze zu inszenieren. LOVING MEMORY, gedreht in den Moorlandschaften der nordenglischen Grafschaft Yorkshire, war der erste Film von Scott Free Films, der gemeinsamen Produktionsgesellschaft der Gebrüder Ridley und Tony Scott, die noch heute existiert. In Teilen wurde der Film von Memorial Enterprises des britischen Schauspielers Albert Finney finanziert, der kurz zuvor auch Lindsay Andersons IF.... produziert hatte. Albert Finney hatte tatsächlich ONE OF THE MISSING gesehen und sich entschieden, Scotts zweiten Film zu produzieren. Den größten Teil der Finanzierung (der Film kostete 12.000 £) übernahm jedoch das British Film Institute mit etwa 8.000 £. Davon kam das meiste aus dem Vivian Leigh Award – ein Spendentopf zur Unterstützung junger Filmemacher, den der BFI bei einer Galavorstellung von GONE WITH THE WIND zu Ehren der kürzlich verstorbenen Vivian Leigh gesammelt hatte.

LOVING MEMORY hatte wie Scotts erster Film seine Premiere am National Film Theatre in London und wurde darauf in die Kritikerwochen des Cannes-Festivals 1971 aufgenommen. Bei Filmfestivals lief er mit gutem Erfolg, kam in Großbritannien jedoch nicht in die Kinos. Die nekrophile Thematik des Films galt den hiesigen Verleihen wohl als zu heikel. Des weiteren war LOVING MEMORY mit seiner Laufzeit von 52 Minuten schwer vermarktbar: zu lang für einen Kurzfilm und zu kurz für einen „richtigen“ abendfüllenden Langfilm. Mit Ausnahme der englisch-sprachigen Episode L‘AUTEUR DE BELTRAFFIO (in der Rosamund Greenwood auch mitspielte) für die französisch-britische TV-Serie NOUVELLES DE HENRY JAMES im Jahr 1976 wandte sich Tony Scott für lange Zeit vom narrativen Film ab und drehte Werbespots für Scott Free Films. Sein nächster Kinofilm (und erster „abendfüllender“ Film), THE HUNGER mit David Bowie, Catherine Deneuve und Susan Sarandon, kam erst 1983 heraus – zugleich seine Eintrittskarte für Hollywood.

Der Arbeitstitel von LOVING MEMORY lautete EARLY ONE MORNING, und im Gegensatz zu ONE OF THE MISSING wirkte nun eine professionelle Filmcrew mit. Gefilmt wurde auf 35mm. Scott selbst übernahm wieder einen Teil der Fotografie, doch der überwiegende Teil wurde von Chris Menges gefilmt, der Ken Loachs KES fotografiert hatte und später in Großbritannien wie auch in Hollywood zum begehrten DoP wurde. Die Bilder von LOVING MEMORY sind schwelgerisch, nostalgisch, teilweise etwas überbelichtet, mit eher schwachen Kontrasten – sicherlich einer der Gründe dafür, weshalb der Film praktisch keinerlei Gedanken zulässt, dass man einem Horrorfilm oder etwas wirklich Bedrohlichem zuschaut. Nachdem der „Gast“ in dem Sessel in der Dachkammer installiert wurde, gibt es auch nur noch selten harte Schnitte, sondern fast nur noch Überblendungen, die eine Szene in die nächste sanft fließen lassen.

James' Geist beherrscht das Haus und die Gedanken der alten Dame.
LOVING MEMORY hat überhaupt keine extradiegetische Musik. Nur zwischendurch legt die alte Frau eine Schallplatte mit dem Standard „Button Up Your Overcoat“ – ein beschwingt heiteres Lied, das atmosphärisch ganz im Kontrast zur traurig-melancholischen Atmosphäre des Films steht (besonders am Ende, als es dann einen Teil der Beerdigung begleitet). LOVING MEMORY hat im Grunde auch keine richtigen Dialoge: die alte Frau spricht lediglich lange Monologe, auf die der tote Radler naturgemäß nichts antworten kann. Die Monologe gehen teils auch bei Szenenwechsel einfach weiter und bilden so etwas wie einen roten Faden, eine Art Voice-Over. So umfassend die Kommunikationsbereitschaft der alten Dame gegenüber ihrem toten „Gast“, so wortkarg ist sie gegenüber Ambrose (der selbst während des ganzen Films nicht ein Wort sagt). Verstehen sich die beiden auch so ohne Worte gut? Oder lauern da tiefe Abgründe (wie ihr – man muss es ja im Grunde so nennen – Mordanschlag auf ihn am Ende des Films vermuten lässt)?

Irgendwie scheint es für die meisten Leute, die über den Film schreiben, völlig klar zu sein, dass die alte Dame und Ambrose Geschwister sind – ich sehe dafür im Film selbst keine konkreten Hinweise (sollte ich eine kleine Nuance in den Monologen bzw. in den Untertiteln verpasst haben, bitte ich das Folgende zu ignorieren oder zumindest nicht auf die Goldwaage zu legen). Auf Anhieb wäre es meiner Meinung nach tatsächlich naheliegend, die alte Frau und Ambrose als Ehegatten zu sehen – und James, von dem sie erzählt, als ihr verstorbener Sohn. Über direkte Verwandtschaftsverhältnisse spricht die alte Frau nur in Bezug auf „mom“ und „dad“, die sie kurz erwähnt, und die James auch kannte – aber keine Hinweise, dass es auch Ambroses und James‘ Eltern waren. So bleibt der einzige, aber nicht film-immanente Hinweis das Exposé, das Scott dem BFI Production Board mit dem Finanzierungsantrag vorlegte, und in dem es heißt, dass James der ältere Bruder von Ambrose und „Jessica“ (so der Name der Frau im Entwurf) gewesen sei. Das im Film wirklich festzumachen, scheint mir fast unmöglich, zumal LOVING MEMORY von jeglicher Zeit enthoben zu sein scheint. Die Handlung könnte in den späten 1930er ebenso angesiedelt sein wie in den späten 1950er Jahren. James‘ Geist, von dem die alte Frau geradezu beseelt ist, bleibt zeitlos: seine Fotografien sind irgendwie alt – aber wie alt? Der junge Mann, der James einmal war – wie alt wäre er in der Jetztzeit der Filmhandlung? Zeit ist in LOVING MEMORY, ebenso wie die verwandtschaftlichen Beziehungen der Figuren, relativ und auch dehnbar, teils aufgehoben. Dazu trägt auch bei, dass alles im Film zirkular zu verlaufen scheint: ein Kreislauf aus Tod, kurzzeitige Wiederauferstehung und Beerdigung. Manche Bilder und kleine Handlungen werden immer wieder reimhaft wiederholt: Ambrose, der eine Pendeluhr im Wohnzimmer aufzieht, die alte Frau, die eine alte Platte auflegt oder verträumt aus dem Fenster schaut, und natürlich ihre vielen „Gespräche“ mit dem Radler in der Dachkammer.

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einer alten Frau und einem toten jungen Mann...
Ein eher dem Arthouse zuzurechnender Film über eine verwirrte alte Frau, die mit einer Leiche spricht: das würden wohl wenige von Tony Scott erwarten, der in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren adrenalinpumpende Hollywood-Actionfilme drehte. Oder doch...? LOVING MEMORY ist auch eine nekrophile Romanze über eine alte Frau, die von einer unerotischen, aber zumindest schwesterlichen oder mütterlichen Liebe zu einem toten jungen Mann ergriffen wird und durch die Schaffung einer besonderen Situation dessen Tod zu überwinden versucht. 35 Jahre später drehte Tony Scott eine weitere nekrophile Romanze, diesmal über einen Mann, der sich in eine tote Frau verliebt (hier allerdings durchaus in einem erotischen Sinne) und anschließend alle menschenmöglichen und technologischen Mittel aufwendet, um ihren Tod zu überwinden: DÉJÀ VU.

...variiert in DÉJÀ VU:
Doug verliebt sich in die tote Claire am Autopsietisch, entwickelt eine
Obsession für ihre Bilder und rettet sie schließlich mit einer High-Tech-Kamera.
DÉJÀ VU von 2006 gehört zur Reihe der oft stark geschmähten Scott-Filme aus seiner späten, „abstrakt-impressionistischen“ Phase. Er wurde gescholten als völlig misslungene Aufarbeitung nationaler US-Traumata (9/11, Katrina, teils der Anschlag von Oklahoma City von 1995), als Zeitreisefilm mit lächerlich vielen Logiklöchern, als vulgäre Ausbeutung der Folgen von Katrina – am Ende distanzierte sich Scott selbst teilweise von dem Film, indem er seine Inszenierung als „mediocre“ bezeichnete. Dennoch: mit DÉJÀ VU drehte Scott tatsächlich seinen VERTIGO (der deutsche Untertitel des Hitchcock-Films „Aus dem Reich der Toten“ würde zu Scotts Film sogar noch besser passen als das schnöde „Wettlauf gegen die Zeit“ – den Vergleich ziehe ich übrigens nicht als erster, siehe hier und hier). Im Kontext von Scotts eigenem Werk wirkt DÉJÀ VU aber tatsächlich wie eine Variation von LOVING MEMORY – mit Explosionen, Zeitreisemaschinen, Verfolgungsjagden in doppelten Zeitebenen und einem kleinen Gender-Switch (Denzel Washington statt Rosamund Greenwood sowie Paula Patton statt David Pugh). Die wichtigste Änderung dürfte die sein, dass der Tod am Ende überwunden werden kann, und das nicht nur unbedingt, weil Doug eine etwas dynamischere Figur ist als die fatalistische alte Frau, sondern weil er ein anderes Medium als sie nutzt, um seine geliebte Person zu erreichen. Sie hatte nur die mündliche Erzählung, er hat hingegen eine komplexe Vergangenheitsüberwachsungsapparatur, die nicht umsonst ein wenig an eine Kinokamera erinnert (diese Analogien, auch zum voyeuristischen Aspekt des Filmens, sind in DÉJÀ VU nicht besonders subtil oder gar versteckt inszeniert – wurden aber wohl trotzdem von vielen übersehen, die nur die „Logiklöcher“ des Zeitreiseszenarios in ihre Strichliste eintrugen). Die alte englische Frau kann tatsächlich nur einen toten Körper mit einer Erzählung über und vielen Erinnerungen an einen anderen toten Mann zu beleben versuchen. Doug hingegen rettet seine geliebte Claire tatsächlich mit einer Kinokamera: aus dem toten Körper wird ein Bild der Frau aus der (parallelen?) Vergangenheit und aus dem Bild später wieder ein lebender Mensch... DÉJÀ VU ist daher nicht nur ein „Remake“, ein Sequel, eine auteuristische Variation, sondern eben auch die Vollendung von LOVING MEMORY.

LOVING MEMORY ist als Hauptfilm zusammen mit ONE OF THE MISSING und Ridley Scotts BOY AND BICYCLE als Bonusfilme auf einer wunderschönen DVD-Blu-ray-Dual-Edition des British Film Institutes erschienen. Bild und Ton sind zumindest auf der DVD exzellent (die Blu-ray kann ich nicht beurteilen), aber trotzdem nicht zur Sterilität kaputt restauriert. Als Beigabe gibt es ein Booklet mit zwei Essays (über die frühen Filme von Tony und Ridley Scott sowie über deren Arbeitsbeziehung zum British Film Institute), aus denen ich einige Infos zu den Produktionsumständen entnommen habe. Das Büchlein wird mit einem Artikel aus dem Magazin „Time Out“ von 1970 mit einigen O-Tönen von Tony Scott sowie je einem Faksimile von Scotts Exposé zu LOVING MEMORY und einer Seite aus dem Drehbuch von BOY AND BICYCLE ergänzt.
DÉJÀ VU ist in vielen DVD-Editionen erhältlich. Egal welche Edition: ein Double-Feature mit LOVING MEMORY wird von mir wärmstens empfohlen!

Sonntag, 12. Juni 2016

Randnotiz: Antisozialistischer Realismus, oder: Der erste Hottentotte im Weißen Haus

Keine Angst: Der Titel ist nicht als Provokation gegen den politischen Korrektheitsfimmel gedacht, oder gar als Beleidigung des amtierenden US-Präsidenten. Er wirft aber ein etwas schlechtes Licht auf einen seiner Amtsvorgänger.

Doch machen wir zunächst einen Abstecher in die Sowjetunion der 30er bis 50er Jahre. Da war in diesem Zeitraum (und in abgeschwächter Form auch noch danach) der sogenannte Sozialistische Realismus die staatlich verordnete Doktrin, die alle Künste (einschließlich des Films) durchdrang. Gefordert wurde eine "einfache", für die gesamte Bevölkerung verständliche Kunst mit positiven Identifikationsfiguren, die durch ihre Vorbildfunktion einen Beitrag zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft leiste. Zur Veranschaulichung hier ein Auszug aus den 1934 verabschiedeten Statuten des Schriftstellerverbands (zitiert nach Wikipedia):
Der sozialistische Realismus als Hauptmethode der sowjetischen künstlerischen Literatur und Literaturkritik, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung müssen mit den Aufgaben der ideologischen Umformung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus abgestimmt werden.
Offiziell eingeführt wurde der Sozialistische Realismus 1932, doch abgezeichnet hatte sich das schon etwas länger. So konstatierte schon 1927 das Sekretariat des Zentralkomitees: "Das Kino bleibt hinter den ernsthaften Bedürfnissen der Massen zurück, popularisiert nicht ausreichend die Losungen der Partei und der Sowjetmacht und bildet die neue Lebensordnung nur schwach ab.". Und als im März 1928 die erste Parteikonferenz zu Kinofragen stattfand, hieß es in der dort beschlossenen Resolution:
Die Kunst in den Händen des Proletariats besitzt sehr reiche Mittel, um die Gefühle, Stimmungen und Gedanken der Massen in Besitz zu nehmen, um den zurückgebliebensten Schichten der Werktätigen, besonders auf dem Dorf, die Perspektiven und Aufgaben des sozialistischen Aufbaus verständlich zu machen, um sehr überzeugend die entstehenden und sich entwickelnden sozialistischen Elemente in den gesellschaftlichen Beziehungen, in der Lebensweise, in der Psyche der menschlichen Persönlichkeit zu zeigen, um ein sehr scharfes Mittel des Proletariats im Kampf gegen feindliche, sich widersetzende Kräfte des Alten zu sein.
Zwar hieß es darin auch noch:
In den Fragen der künstlerischen Form kann die Partei keinerlei besondere Unterstützung der einen oder anderen Strömung, Richtung oder Gruppierung leisten. Sie lässt den Wettbewerb zwischen den verschiedenen formal-künstlerischen Richtungen und die Möglichkeit zum Experiment zu [...].
Doch das wurde dahingehend eingeschränkt, dass "das Kino eine Form, die den Millionen verständlich ist", haben solle.

Hochrangige Politiker wie Boris Schumjazki und etwas später Andrej Schdanow kritisierten Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudowkin, Alexander Dowschenko, Lew Kuleschow, Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg, Dsiga Wertow und weitere Vertreter der weltweit bewunderten sowjetischen Montage-Schule, sowie in der bildenden Kunst die Vertreter von Konstruktivismus und verwandten Strömungen, weil ihre Kunst für die breite Masse zu kompliziert, ja völlig unverständlich sei und somit keinen angemessenen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft leiste. In Literatur und Musik gab es analoge Tendenzen. Zusammengefasst wurden die Vorwürfe unter dem Schlagwort des Formalismus. Ein Künstler, der weiterhin dem Formalismus frönte, war zunehmend supekt, schließlich "bourgeois", ja sogar "reaktionär" oder "konterrevolutionär". Gewünscht waren dagegen heroische Filme wie TSCHAPAJEW (1934) und Komödien (gerne mit Musik). "Die siegende Klasse will freudig lachen", war ein Wahlspruch von Schumjazki, von 1930 bis zu seinem jähen Sturz im Januar 1938 der oberste sowjetische Filmfunktionär.

Bezeichnend auch dieses Zitat des hochrangigen Kulturfunktionärs Georgi Antonowitsch Donderow:
Formalistische Kunst ist reaktionär, weil sie verzerrt und hässlich ist, weil sie unser schönes Land, unsere freudigen und lächelnden Menschen und unseren materiellen Fortschritt nicht verherrlicht. Kunst, die unser schönes Land nicht verherrlicht, in geradlinigen einfachen Formen, die jeder versteht, erzeugt Unzufriedenheit. Sie ist deshalb im Gegensatz zur Partei, und diejenigen, die sie fördern, sind Feinde.
Doch halt - Kommando zurück! Soeben habe ich nämlich massiv geschummelt. Das letzte Zitat stammt überhaupt nicht von dem (fiktiven) Georgi A. Donderow, sondern vom (real existiert habenden) George A. Dondero, seines Zeichens republikanischer Abgeordneter für Michigan im Repräsentantenhaus, und damals (1947-49 und 1953-55) auch Vorsitzender des Committee on Public Works. Und das Zitat lautet auch etwas anders, nämlich so:
Moderne Kunst ist kommunistisch, weil sie verzerrt und hässlich ist, weil sie unser schönes Land, unsere freudigen und lächelnden Menschen und unseren materiellen Fortschritt nicht verherrlicht. Kunst, die unser schönes Land nicht verherrlicht, in geradlinigen einfachen Formen, die jeder versteht, erzeugt Unzufriedenheit. Sie ist deshalb im Gegensatz zu unserer Regierung, und diejenigen, die sie fördern, sind Feinde.
Um dem möglicherweise aufkommenden Verdacht einer tendenziösen Übersetzung zu begegnen, hier der Originalwortlaut:
Modern art is Communistic because it is distorted and ugly, because it does not glorify our beautiful country, our cheerful and smiling people, our material progress. Art which does not glorify our beautiful country in plain simple terms that everyone can understand breeds dissatisfaction. It is therefore opposed to our government and those who promote [in einer anderen Quelle steht create statt promote] it are our enemies.
Huch! Die strukturelle Gleichheit der Gedanken von Dondero und seinen sowjetischen Kollegen wie Schdanow ließ mich spontan den Begriff Antisozialistischer Realismus für Donderos Wunschvorstellungen (für die er eine Goldmedaille des International Fine Arts Council erhielt - kein Witz!) erfinden. Ob Dondero wohl die Ironie in dieser Äquivalenz erkannte? Eher nicht. Er wurde tatsächlich einmal darauf angesprochen, von einer Kunstkritikerin der New York Herald Tribune. Darüber geriet er so in Rage, dass er dafür sorgte, dass die Kritikerin von ihrer Zeitung gefeuert wurde.

Dondero war nicht der einzige seiner Couleur. Besonders deutlich zeigte sich das 1946/47, als der Kalte Krieg gerade entbrannte. Damals hatte das amerikanische Außenministerium eine bemerkenswerte Idee: Es sollte eine Ausstellung moderner amerikanischer Kunst zusammengestellt und auf Tournee ins Ausland geschickt werden. Der Zweck war ein doppelter: Das unter europäischen Intellektuellen verbreitete Vorurteil, die USA seien eine kulturelle Wüste, sollte widerlegt werden. Vor allem aber war die Ausstellung - zweitens - als Waffe im Kalten Krieg gedacht: Die Überlegenheit einer freien Entfaltung künstlerischer Kreativität - gerade im Vergleich zu den stereotypen Werken des sowjetischen Sozialistischen Realismus - sollte demonstriert werden. Und damit natürlich die Überlegenheit der westlichen Lebensweise überhaupt. Zu diesem Zweck wurden vom Außenministerium 117 Gemälde und Grafiken führender Vertreter der modernen US-Kunst angekauft. Nach der Premiere in New York im Oktober 1946 wurde die Ausstellung mit dem Titel Advancing American Art in zwei Hälften geteilt und auf Reisen geschickt. Der eine Teil gastierte zunächst in Paris und sollte dann durch Osteuropa touren, kam aber nur noch bis Prag. Der andere Teil, der die Karibik und Lateinamerika bereisen sollte, sah nur Kuba und Haiti, schaffte es aber nicht mehr bis Venezuela.

Denn der Schuss ging nach hinten los. Sogleich nach Beginn der Ausstellung meldete sich das amerikanische "gesunde Volksempfinden" zu Wort. Diese Kunst sei unamerikanisch und subversiv, glaubten viele Medien ihren Lesern mitteilen zu müssen, vor allem aber: Dieses merkwürdige Zeug, das sich frecherweise "Kunst" nennt, ist in Wirklichkeit natürlich überhaupt keine Kunst. Und viele Politiker sprangen auf diesen Zug auf. "I am just a dumb American who pays taxes for this kind of trash", beschwerte sich etwa ein Kongressabgeordneter. Und kein Geringerer als Präsident Truman fühlte sich auf einer Pressekonferenz zu folgender Erklärung bemüßigt: "Wenn das Kunst ist, dann bin ich ein Hottentotte" (If that's art, then I'm a Hottentot!).

Nun denn, so sei es. Da haben wir ihn also, den ersten Hottentotten im Weißen Haus.

Das Außenministerium zog die Notbremse und brach die Wanderausstellung ab. Die 117 Werke, die sich ja im Eigentum des Ministeriums befanden, wurden daraufhin an diverse Universitäten bzw. damit assoziierte Museen und andere öffentliche Einrichtungen verschleudert - es gab Preisnachlässe bis zu 95%. Beispielsweise ging ein Gemälde von Georgia O'Keeffe für rund 50 Dollar über den Ladentisch. - Vor einigen Jahren stemmten mehrere amerikanische Museen gemeinsam die Aufgabe, die glücklose Ausstellung wieder aufleben zu lassen. Immerhin 107 der 117 Werke wurden ausfindig gemacht und ausgestellt, nur von zehn fand sich keine Spur mehr (sie befinden sich wohl in Privatbesitz). Mindestens zwei Bücher (dieses und jenes) sowie der Katalog der neu aufgelegten Ausstellung berichten über dieses bemerkenswerte Kapitel amerikanischer Kulturpolitik.

Die Angelegenheit hatte noch ein lang andauerndes und einigermaßen bizarres Nachspiel. Denn das Außenministerium fand seine Idee nach wie vor gut und wollte daran festhalten. Aber offen ging das nun nicht mehr. Wen betraut man staatlicherseits mit einer geheimzuhaltenden Operation? Einen Geheimdienst natürlich. Und so wurde doch tatsächlich die CIA damit beauftragt, moderne amerikanische Kunst (und vor allem die besonders umstrittene Richtung des Abstrakten Expressionismus) zu fördern und zu protegieren. Und anders als bei den Contras in Nicaragua, afrikanischen und lateinamerikanischen Diktatoren und dubiosen Drogenbaronen durften hier auch die Geförderten nicht erfahren, aus welchen geheimen Kassen das Geld stammte, das ihnen zufloss. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ach ja, bevor ich es vergesse: Verkauft mir jemand ein Gemälde von Georgia O'Keeffe für 50 Dollar? Notfalls würde ich den Betrag auch verdoppeln ...