Samstag, 9. Juni 2012

Familienurlaub, Liebe und Massenterror

DIE SONNE, DIE UNS TÄUSCHT (UTOMLENNYE SOLNCEM/SOLEIL TROMPEUR)
RUS/F 1994
Regie: Nikita Michalkov
Darsteller: Nikita Michalkov (Sergej Kotov), Oleg Men’šikov (Mitja), Ingeborga Dapkūnaitė (Marusja), Nadežda Michalkova (Nadja) u.a.


Prolog:

„Utomlennye solncem“ ist eine wunderschöne und typisch russische Instrumental-Konstruktion! Sie bedeutet soviel wie „Die von der Sonne Ermüdeten“. Mit dem sechsten grammatikalischen Fall wird der Titel des sowjetischen Schlagers „Utomlennoe solnce“ (Die ermüdete Sonne) verballhornt. Die melancholische Komposition heißt eigentlich auf polnisch „To ostatnia niedziela“ (Der letzte Sonntag) und stammt aus der Feder des polnischen Jazz-und-Tango-Komponisten Jerzy Petersburski. Zenon Friedwalds dazugehöriger Text handelt vom letzten Treffen zweier getrennter Liebhaber. Aleksandr Cfasmans Jazz Band adaptierte zwei Jahre später, nämlich 1937, eine russisch-sowjetische Version des Lieds unter dem Titel „Utomlennoe solnce“, mit einem ähnlichen Text.
„Utomlennoe solnce“ war zu seiner Erscheinungszeit ein Hit und bildete gewissermaßen den Soundtrack zum Großen Terror. Es ist ein kleiner Goof, dass das Lied von 1937 im Film verwendet wird, der 1936 spielt. Schlichtweg einfacher wäre es gewesen, die Handlung ein Jahr nach hinten zu verlegen, denn die Komposition trägt in allen möglichen Variationen ganz entscheidend zur Atmosphäre des Films bei!

Die ermüdende Sonne:

Morgens um halb zehn: Einige friedliche Bauern wollen auf dem Feld arbeiten, aber plötzlich tauchen aus dem Nichts Panzer auf. Ein Militärmanöver beginnt, ganz egal, wie viel Weizen dabei draufgeht. Die Bauern sind empört und wollen dies natürlich verhindern. Und dann taucht er auf! Ein tapferer Reiter in Leinenhosen und Matrosenunterhemd, der sich den Panzern mutig entgegenstellt. Er weist die Leiter des Manövers wortgewaltig zurecht, schreit einige Befehle und... das ganze wird abgeblasen und soll anderswo stattfinden. Es ist morgens um halb zehn im schönen Sommer des Jahres 1936 in der Sowjetunion.

Der Patriarch, Held des Russischen Bürgerkriegs, Altbolschewik und Oberst der Roten Armee Sergej Kotov (exzellent vom Regisseur Nikita Michalkov dargestellt) versammelt an einem heißen Tag Ehefrau, Tochter, erweiterter Familienkreis und Bekannte in seiner Sommer-Datscha in der Nähe von Moskau. Die Gesellschaft frühstückt, trinkt Tee, plaudert, hört Schallplatten, tanzt, musiziert, macht Witze, geht schwimmen und amüsiert sich prächtig. Es ist die Idylle einer aristokratisch anmutenden Familie, wie Čechov sie nicht besser hätte beschreiben können. Währenddessen entledigt sich das stalinistische Regime im ersten Moskauer Schauprozess der Altbolschewiki Kamenev und Zinov’ev und bereitet eine beispiellose Terrorkampagne vor, die zur Erschießung Hunderttausender Menschen führte. Und dann kommt auch noch ein unerwarteter Gast in Kotovs Datscha.

Um zunächst eines klarzustellen: Der Film endet für die wichtigsten Figuren des Films eher schlecht! Und wenngleich „Die Sonne, die uns täuscht“ wahrscheinlich nicht nur einer der besten, sondern auch differenziertesten Filme über den Stalinismus ist, so ist seine Beschäftigung mit dem Thema bis zur letzten halben Stunde sehr subtil und eher verdeckt – zumindest für jeden, der den Film zum ersten Mal sieht. Es dominiert die chaotische Atmosphäre einer Familienkomödie, die von absurd-grotesken Situationen durchzogen ist. Die Datscha gleicht einem Irrenhaus. Onkel Vsevolod schwärmt zusammen mit den zwei Omas von den alten Zeiten, wenn er nicht gerade die hypochondrische und leicht schwachsinnige Haushälterin anbaggert. Onkel Kiriks erratisches Verhalten lässt an seiner geistigen Gesundheit ebenfalls zweifeln, wenn er nicht gerade die Alkoholreserven plündert oder eine junge Musikstudentin anbaggert, die ebenfalls aus unbekannten Gründen das Kotov’sche Anwesen besucht. Dazwischen ist Kotovs Tochter Nadja so quengelig wie ein sechsjähriges Kind es eben sein kann.

Noch mehr Leben in die ohnehin verrückte Bude bringt Mitja. Er ist ein attraktiver Mann in den Dreißigern, humorvoll, eloquent, gebildet, musikalisch geschult und er kommt mit allen beteiligten Personen wunderbar aus. Hinter der fröhlichen Fassade lauert jedoch der Zerfall von Kotovs Familie, denn Mitja ist auch der ehemalige Liebhaber von Marusja, der Ehefrau Kotovs. Die Liebe zwischen den beiden lodert noch unter der Oberfläche. Und Mitja ist Offizier des NKVD und hat den Auftrag, Stalins Terror in die fröhlich-ausgelassene Gesellschaft am ländlichen Rand Moskaus zu bringen.

Mitja ist nicht zuletzt dank der außergewöhnlichen Darstellung Oleg Men’šikovs so interessant geraten. „Utomlennye solncem“ ist dadurch aber noch lange nicht ein Film über einen Täter! Michalkov macht es sich tatsächlich nicht so einfach. Denn obwohl es sich oberflächlich um eine oft absurde Familienkomödie mit einigen melodramatischen Elementen handelt, ist die Darstellung des Stalinismus in diesem Film sehr viel differenzierter und subtiler, als bei der ersten Sichtung denkbar wäre. Dafür muss man sich jedoch von gängigen, von der Totalitarismus-Theorie beeinflussten Sichtweisen entfernen, wonach ein allmächtiger sowjetischer Staat seine eigenen Bürger nur durch Terror unterworfen habe.

Mitja ist als NKVD-Offizier zwar offensichtlich ein Täter. Doch auch er hat eine komplizierte Vergangenheit. Während des Russischen Bürgerkriegs kämpfte er auf Seiten der Weißen Armee und emigrierte nach deren Niederlage. Voller Sehnsucht, seine Heimat und seine Geliebte Marusja wieder zu sehen, ging er mit den sowjetischen Sicherheitsbehörden einen Deal ein und arbeitete aus dem Ausland als Doppelagent. Kurz nach seiner Rückkehr in die russische, nun sowjetische Heimat, beorderte ihn eine hochgestellte Armee-Persönlichkeit wieder in den Auslandsdienst... und nahm Mitja gleich noch die geliebte Marusja weg.

Diese hochgestellte Persönlichkeit ist natürlich niemand anders als Kotov selbst. Kotov, der die Entführung und Hinrichtung emigrierter weißer Offiziere selbst organisiert hat. Kotov, der seinen Dienstrang nicht nur gebraucht, um Urlaubs-störende Panzermanöver zu beenden, sondern auch um einen lästigen Rivalen in Sachen Liebe loszuwerden. Kotov, gläubiger Altbolschewik und Stalinist. Kotov, der nicht nur Stalins Widmung auf einem gemeinsamen Foto hat, sondern auch dessen direkte Kreml-Telefonnummer. Kotov, dessen Name und Beziehungen ihn jedoch vor dem Großen Terror nicht schützen werden.

Sowohl Mitja wie Kotov differenzieren sich im Verlaufe des Films und lösen Zuordnungen wie „Täter“ und „Opfer“ zunehmend auf. Die „Bösen“ sind keine absoluten Bösen, und die „Guten“ haben selbst Schmutz (und Blut) an ihren Händen kleben. Die drei dargestellten NKVD-Schergen sind keine sadistischen Schläger, sondern „normale“ Leute: Sie schwitzen (weil es eben Sommer und extrem heiß ist), sie packen ihre Mittagsbrote aus (weil sie eben hungrig sind), sie fahren einen Häftling nach Moskau, wo er wahrscheinlich erschossen sind (weil es eben ihr Job ist). In wenigen Bildern erfährt hier der Zuschauer hundert Mal mehr über die Vollstrecker des stalinistischen Terrors als etwa in Andrzej Wajdas überaus krudem Machwerk „Katyń“.

Oberflächlich folgt die Haupthandlung des Films der klassischen Chruščev’schen Deutung des Stalinismus: der Große Terror als „Große Säuberung“, als Selbstzerstörung des Partei-, Armee- und Staatsapparats, letztlich als Selbstviktimisierung der bolschewistischen Elite. In einem charakter-zentrierten Film mit komplexen individuellen Hauptfiguren ist es sicherlich schwierig, den Massencharakter der stalinistischen Gewalt darzustellen. Doch zeigt der Film zumindest bei einer Figur, dass der Terror jeden treffen konnte, und zwar ganz besonders jene, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Doch gerade in seiner Stalinismus-Darstellung jenseits des reinen Terrors läuft „Utomlennye solncem“ zu Hochform auf. Dass der Film sich oft so anfühlt, als hätte ausgerechnet der Fellini der Spätphase Čechov beim Verfassen des Drehbuchs geholfen, ist für die treffende Charakterisierung der Stalin-Ära durchaus hilfreich. Wenn es nicht gerade um die Aushandlung zwischenmenschlicher Beziehungen geht, verfällt der Film in ein befremdliches und bizarres Chaos oder montiert völlig irrationale Handlungen aneinander. Als sich die Kotov’sche Gefolgschaft an einem Flussstrand mit zahlreichen anderen Badegästen gerade entspannt, taucht aus dem Nichts eine Bürgerwehr auf, die eine spontane und dilettantische Gasmaskenübung veranstaltet. Der ganze Spaß endet im völligen Chaos: Personen werden verletzt, die Liegetragen sind nicht für Frauen über 100 Kilo konzipiert und das ganze dient scheinbar letztlich nur dazu, dem Chef der Bürgerwehr eine kleine Nacktbade-Sitzung zu ermöglichen. In dieser befremdlichen Szene ist ein Kern-Wesenszug der Sowjetunion der 1930er festgehalten: das stalinistische Regime war ein Mobilisierungs-Regime, das ganz bewusst mit inszeniertem Chaos die Bevölkerung in permanenter Alarmbereitschaft halten wollte und das die Gesellschaft mit dem militanten Kampfgeist der Bürgerkriegs-Ära durchdringen wollte.

Der Stalinismus ließ den Geist des Russischen Bürgerkriegs für eine Generation wieder aufleben, die ihn selbst nicht aktiv erlebt hatte. Während Getreidebrigaden in den Dörfern den Bürgerkrieg wieder in Echt aufleben ließen, wurden Schlachtfelder an anderer Stelle künstlich in Form sozialistischer Monumentalprojekte geschaffen. Die Moskauer Metro, aber auch der Weißmeer-Ostsee-Kanal zeugen noch heute davon. In „Utomlennye solncem“ werden hingegen in der Nähe von Kotovs Datscha auf Großbaustellen Heißluftballons und Zeppeline gebaut. Das ist sicherlich als Satire auf die stalinistischen Monumentalvorhaben mit ihrem blinden und militanten Aktionismus zu verstehen – besonders angesichts ihres Verwendungszwecks! Obwohl sich tatsächlich nicht ausschließen lässt, dass ein sozialistischer Wettbewerb zum Heißluftballon-Bau tatsächlich stattgefunden hat.

Das Regime ließ seinen Bürgern aber auch sehr wohl Freiräume zur Entspannung und zum Rückzug, ja gar zu einer geradezu kleinbürgerlichen Familienidylle. Gerade die gemeinsamen Szenen zwischen Kotov und seiner Tochter Nadja (gespielt von der Tochter des Regisseurs und Hauptdarstellers Nadežda Michalkova) sind auf ehrliche Weise bewegend und rührend. Sie sind auch die einzigen Momente, in denen Spannung und Chaos weichen... zumindest vorübergehend. Denn Anspannung, Alarmbereitschaft und Aktionismus wurden als Ausnahmezustand zum Normalzustand, während der Rückzug als potentieller Normalzustand zur Ausnahme wurde. Diese extreme Anspannung der frühen Stalin-Zeit ist immer vorhanden und dominiert, wenngleich meist latent, die Grundstimmung des Films: sei das nervöse Klopfen auf ein Wasserglas, das subtile und leicht aggressive Minderwertigkeitsgefühl Kotovs gegenüber der aristokratisch-intellektuellen und frankophilen Familie Marusjas, die herumliegenden Glasscherben am Badestrand, die beiläufige Erwähnung von Säuberungen an der Fakultät beim Frühstück oder die Narben an Mitjas und Marusjas Körper, die von vergangenen tödlichen Kämpfen und Selbstverletzungen zeugen.

Mit dem Zweiten sieht man angeblich besser. Bei „Utomlennye solncem“ werden die meisten Zuschauer vielleicht erst ab der dritten Sichtung etwas sehen, da der Film aufgrund seiner Vielschichtigkeit durchaus überwältigen kann. Selbst bei der vierten Sichtung kann man noch kleine Details erkennen, die die Komplexität des Films weiter bereichern – ohne ihn unbedingt logischer machen zu müssen: Z.B. die überaus schwierige Beziehung Mitjas zu Marusja, deren Ursprünge im Grenzbereich zwischen Inzest und Pädophilie vermutet werden können. Auch die Frage, wie der Prolog und der Epilog chronologisch zusammengehören, kann je nach Sichtung eine andere Antwort finden: liegt ein ganzer Tag zwischen ihnen oder trennt sie nur wenige Minuten? Eine interessante Frage, die an Mitjas Schicksal nichts ändert, sehr wohl aber die Bedeutung des Telefonats im Prolog: trägt Stalin oder Mitjas eigenes Gewissen eine größere Schuld am Verderben des charmant-teuflischen NKVD-Offiziers?

Epilog:

„Utomlennye solncem“ hat 1994 den Großen Preis der Jury beim Cannes-Festival und ein Jahr später den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewonnen. Dies trug wohl dazu bei, dass Michalkov den Erfolg irgendwie erneuern wollte, etwa durch eine Fortsetzung. Da am Schluss des Films eigentlich alle wesentlichen Figuren tot sind und Michalkov keine Fortsetzung als Zombie-Version drehen wollte – was in einer gewissen Weise gar nicht so unpassend gewesen wäre – hat er eine riesige, großkalibrige „deus ex machina“ ausgepackt. Die Figuren sind eigentlich gar nicht gestorben oder gestorben worden, sondern kämpfen nun gegen das faschistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Das ganze ist 2010 rausgekommen, heißt „Utomlennye solncem 2“ und sieht vom Plakat her aus wie eine Art „Rambo à la russe avec moustache“... Vielleicht sind die Zombies der geplanten Untoten-Version einfach nur abgehauen, nachdem sie Michalkov das Gehirn weggefuttert haben.

Technischer Hinweis:

Der Film ist im deutschsprachigen Raum nicht auf DVD zu finden. Wenn er im deutschsprachigen Fernsehen läuft, dann nur massiv (um etwa 20 Minuten) gekürzt! Der gepflegte Cinephile findet den Film in einer britischen DVD-Ausgabe, hier mit der ungekürzten Laufzeit von 146 Minuten.

Sonntag, 3. Juni 2012

Leben wie Gott im Herzogtum Burgund

Blockade in London
(Passport to Pimlico, Grossbritannien 1949)

Regie: Henry Cornelius
Darsteller: Stanley Holloway, Betty Warren, Barbara Murray, Paul Dupuis, John Slater, Jane Hylton, Raymond Huntley, Philip Stainton, Margaret Rutherford u.a.

Obwohl die Ealing Studios im Westen Londons einer langen und wechselhaften Geschichte ausgesetzt waren, bringt man sie vor allem mit ein paar Nachkriegskomödien in Zusammenhang, die unter der Leitung von Michael Balcon entstanden. Diese Komödien - es waren 17, um genau zu sein - werden auf diffuse Art als „deeply British“ empfunden, was auch die an Verehrung grenzende Einstellung erklärt, die ihnen Engländer noch heute entgegenbringen. Es fällt allerdings schwer, dieses angeblich typisch Britische in Worte zu fassen, haben wir es doch keineswegs mit einer homogenen, sich gegenseitig beeinflussenden Reihe zu tun. Manche wollen es in einer durchgehenden Feier der Gemeinschaft, die leicht exzentrisch erscheinend zusammenfindet, erkennen. Kritiker verweisen denn auch nostalgisch gestimmt auf die „Ealing tradition“, wenn sie von späteren Filmen sprechen, in denen auf harmlos-humorvolle Weise ein Gemeinschaftsgefühl beschworen wird: von „Local Hero“, 1983, über die von mir an anderer Stelle erwähnten Komödien, die an „The Full Monty“, 1997, anschliessen  - bis zu „Attack the Block“, 2011. Alleine schon die ultimative Ealing Comedy, „Kind Hearts and Coronets“ (1949), in der sich ein verarmter Aristokrat durch seine ganze Verwandtschaft mordet, zeigt jedoch, dass dieser durchgehend harmlose Humor wohl eher dem Wunsch entspringt, Ealing als „point of reverence“ für "gemütliche" Komödienmacher zu bestimmen, beinahe zwanghaft an die grosse Ealing-Zeit zu erinnern. 


Wer verstehen will, was so bezeichnend für diese Ealing Comedies ist, muss sie einerseits wohl oder übel als Produkte der späten 40er und 50er-Jahre akzeptieren, andererseits aber auch die Philosophie der Ealing Studios unter der Ägide des Patriarchen Michael Balcon berücksichtigen: Während des Zweiten Weltkriegs und kurz darauf entstanden abgesehen von ein paar verfilmten Lustspielen kaum britische Komödien. Der dominierenden Rank Organisation lag vielmehr daran, mit aufsteigenden Filmemachern Werke zu drehen, die internationalen Ansprüchen genügen sollten („Great Expectations“, 1946, „The Red Shoes“, 1948, „The Third Man“, 1949, und andere). Erst Ende der 40er Jahre kam Balcon, der die kleinen, eher auf „bescheidenere“ Kriegsfilme spezialisierten Ealing Studios 1938 übernommen hatte, auf die Idee, sich mit finanzieller Unterstützung von Rank in verschiedenen Genres zu versuchen. Die Atmosphäre bei Ealing galt als familiär (man sprach vom „studio with the team spirit“), es wurden stets die gleichen Techniker und Drehbuchautoren beschäftigt. Vor allem bemühte man sich aber auch um neue Talente, und zu diesen Talenten gehörten begabte Komiker, die sich nach dem Niedergang der Music Halls gerne der Ealing-Familie anschlossen. Komödien, die ebenfalls Weltruhm erlangen sollten, waren die Folge. Und die meisten dieser Komödien (abgesehen von den Filmen die mit dem neuen Star Alec Guinness aufwarteten) ermöglichten es einem ganzen Ensemble, mit seinem humoristischen Können zu glänzen. 

Michael Balcon, durchaus ein komplexer Produzent, war vor allem daran interessiert, der Wirklichkeitsflucht Hollywoods Filme entgegenzusetzen, die sich auf subversive Weise, wenn auch nicht aufdringlich, mit einem Stück Wirklichkeit auseinandersetzten, einen politischen Subtext einbrachten. Er sprach in diesem Zusammenhang gern von einer "mild revolution", die seine Produktionen auszeichnen sollte. Was er damit meinte, erklärte er einmal in einem Interview: "By and large we were a group of liberal-minded, like-minded people... we were middle-class people brought up with middle-class backgrounds and rather conventional educations...we voted Labour for the first time after the war: that was our mild revolution." - Man kann von einer leichten politischen Dimension reden, die sich in den Ealing Comedies Raum verschafft, manchmal beängstigende Vorstellungen entwickelnd (etwa in "The Man In the White Suit", 1951), oft einfach die sture Torheit der (Nachkriegs-)Regierung, der so leicht beizukommen war, auf die Schippe nehmend - aber nie auch nur annähernd so anarchisch wirkend wie  Monty Python, die in den 70ern mit einer zeitgemässen Kombination von Humor mit politischem Subtext antraten.  - Die Ealing-Komödien mögen dem heutigen Zuschauer wie auch die angeblich in ihrer Tradition stehenden Filme oft etwas harmlos und veraltet vorkommen. Wer sich aber die vielen "Doctor"- und "Carry On"-Filme vor Augen hält, die die britischen Zuschauer nach dem Verkauf der Ealing Studios in der zweiten Hälfte der 50er Jahre "erfreuen" sollten, wird sie zu schätzen wissen. Und er erkennt vor allem auch: Sie stecken voller Humor, der auf eigenartige Weise  nur wirkt, weil er von sich scheinbar ernst nehmenden Briten dargeboten wird. 


"Passport to Pimlico" wird gerne als "the most Ealingish of Ealing comedies" bezeichnet, und dies ist vielleicht der Grund, weshalb der Film ausserhalb Englands wenig bekannt ist und seine Gags auch von jüngeren Briten nicht ohne Erläuterungen verstanden werden. Er spielt im unmittelbaren Nachkriegs-London mit seiner übertriebenen Bürokratie, aus der sich ein paar Menschen unerwartet  befreien zu können glauben: Während einer britisch-steifen Sitzung, in der es um die Errichtung eines mit Swimming Pool ausgestatteten Kinderspielplatzes an einer vom Krieg zerstörten Stelle im Londoner Stadtteil Pimlico geht, lassen ein paar sich herumtreibende Knaben das Rad eines Traktors in ein Loch rollen und lösen eine Explosion aus. Denn im Loch befand sich eine Luftwaffe-Bombe aus dem Krieg, die nun unerwartet ein Kellergewölbe freilegt, in dem man nicht nur uralten Schmuck entdeckt, sondern auch eine Kassette mit einem Dokument. Dieses Dokument erweist sich, wie die Geschichtsprofessorin Hatton-Jones wort- und gestenreich erläutert, als authentischer und nie widerrufener Freibrief, in dem König Edward IV. (1442-1483) einen Strassenzug Pimlicos an Karl den Kühnen als burgundisches Gebiet abgetreten hatte, als dieser dort Zuflucht suchte. - Die Bewohner des Strassenzugs bemerken rasch, dass sie als „echte Burgunder“ den oft mühsamen Schikanen der Regierung, aber auch der Lebensmittelrationierung entkommen können – und bald jauchzt sogar der einzige Bobby des Distrikts: „Blimey, I’m a foreigner.“ – Doch Whitehall reagiert auf die Freiheiten, die sich der unerwartete Nachbarstaat mitten in London nimmt, keineswegs mit Begeisterung. Und als dann auch noch der Schwarzhandel dort zu blühen beginnt, entschliesst man sich zu einer Blockade des Stadtteils inklusive Grenzschliessung und Stacheldraht. Die Burgunder in London wiederum reagieren mit einer Passkontrolle der U-Bahn-Passagiere an ihrer „Grenze“. Man schaukelt sich gegenseitig hoch, bis sich eigentlich keine Partei mehr in ihrer Situation wohl fühlt. Dann erscheint auch noch der echte, äusserst gut aussehende Herzog von Burgund auf der Bildfläche und bringt die bislang typisch englisch ablaufenden Liebesgeschichten mit seinem europäischen Charme durcheinander…

T.E.B. Clarke widmete sich im ersten und angeblich besten seiner sechs Drehbücher für Ealing Comedies der Sehnsucht, an einem anderen Ort als England zu sein, zeigte aber auf lustige und deshalb nicht übermässig konservativ wirkende Weise auf, wohin die damit verbundene Freiheit ohne Verantwortung seiner Meinung nach führe: zum Bedürfnis, doch wieder Teil dieses geordneten Englands zu werden. Die ersehnte Ferne wird schon in den einleitenden Bildern auf raffinierte Weise heraufbeschworen: Ein weiss gekleideter Mann tritt zu mediterraner Musik an sein Fenster und blickt auf einen Sonnenschirm, unter dem jemand ruht, während sich eine Frau im Badekleid in der Sonne räkelt. Erst das Heraufziehen des Sonnenschutzes über einem Geschäft zeigt, dass sich der Zuschauer nicht am Mittelmeer befindet, sondern mitten im alltäglichen London, das, man glaubt es kaum, einer Hitzewelle ausgesetzt ist. Es mag auch an dieser Hitze liegen, dass sich sowohl die zukünftigen Burgunder auf Zeit als auch Whitehall („Technically, these Burgundians are aliens.“) unfähig zeigen, mit der Entdeckung des Dokuments umzugehen oder zu vernünftigen Lösungen zu gelangen. – Der Übermut bricht in einem neo-burgundischen Pub aus, wo man plötzlich auf die Idee kommt, man müsse sich nicht an die von der Regierung verordneten Öffnungszeiten halten. Als Polizist P.C. Spiller, der bald in einer eleganten weissen Uniform für „burgundische“ Bobbies herumlaufen wird, für Ordnung sorgen will, fordert man ihn auf, sich doch auch noch ein Bierchen zu genehmigen. Und um den Abend mit einem Höhepunkt abzuschliessen, verbrennt und zerreisst man die 1938 eingeführten, unbeliebten Identitätskarten (ähnlich verhielt sich 1950 ein Mann namens Clarence Henry Willcock, der sich mit der frechen Ausrede „I am a Liberal, and I am against this sort of thing“ weigerte, seine Karte zu zeigen und als letzter zu einer Strafe von zehn Schilling verdonnert wurde). 


Von nun an kennen beide Seiten keine Gnade mehr. Die Burgunder suhlen sich im Schwarzmarkt, und Whitehall stellt ihnen im Gegenzug Wasser und Elektrizität ab. Gegnerische Autos streiten sich via Lautsprecher, während Pimlico vom Wunsch nach einer „politischen“ Ordnung in seinem Burgund ergriffen wird.  Doch die Frage, wer denn eigentlich das Sagen haben solle, führt zu einem weiteren Chaos. Am Ende wird der Geschäftsführer und Entdecker des Dokuments Arthur Pemberton zum „Prime Minister“ nach britischem Vorbild ernannt. Denn im Grunde genommen möchte man, wie es Pemberton’s Frau sehr britisch auf den Punkt bringt, Engländer und Burgunder zugleich sein, die Vorteile beider „Nationalitäten“ geniessen: „We always were English, and we'll always be English, and it's just because we are English that we're sticking up for our rights to be Burgundians!“ – Und alle sich überschlagenden Geschehnisse werden von Journalisten verfolgt, teilweise sogar angeheizt. Die immer wieder eingeblendeten Schlagzeilen diverser Zeitungen zeigen, dass die Presse Grossbritanniens schon vor Rupert Murdoch Einfluss zu nehmen verstand. Höhepunkt des Films ist eine Wochenschau, die sich ein paar Jungs aus Pimlico in einem Kino anschauen und die dem Motto „The Siege of Burgundy“ folgend nicht nur die heldenhaften Bewohner Pimlicos sondern auch reale Gestalten wie Winston Churchill (dessen Reden für diverse harmlose Gags herhalten mussten) vorstellt und mit britischem Understatement wie „Water is cut up, but liquor makes, too“ glänzt.
"Passport to Pimlico" lebt vor allem vom Spiel einst in ganz England bekannter Komiker wie Stanley Holloway, John Slater und Philip Stainton, die als stereotype Figuren für Humor sorgen. Und allein schon die in einer Nebenrolle auftretende Margaret Rutherford als ebenso neugierige wie taktlose Professorin (die Rolle sollte ursprünglich von einem Mann gespielt werden), die den Herzog von Burgund fragt, ob er Bluter sei, lohnt eine Sichtung. Ansonsten vermag die Geschichte mit ihren kleinen Anspielungen auf die Blockade Berlins heute nur noch stellenweise zu begeistern. Sie folgt vielleicht zu sehr Michael Balcon’s Philosophie einer „mild revolution“ – und legt die Betonung auf „mild“. Das scheinbar in Anarchie mündende Aufbegehren der Möchtegern-Burgunder ist von einer Nostalgie durchzogen, die nicht nur einem England gilt, sondern sogar einem England während des Kriegs, als Zusammengehörigkeit noch gelebt wurde. Diese Zusammengehörigkeit wird gegen Ende des Films gefeiert, als die eingeschlossenen Burgunder mit Unmengen von Lebensmittel-Paketen beliefert werden. Ein von einem Hubschrauber herabgelassenes Schwein, das in der Luft fliegt, deutet aber zugleich das rein Illusorische der heraufbeschworenen Stimmung  an, verweist es doch auf das Idiom „when pigs fly“ (das geschieht, wenn Schweine fliegen, also nie). – Balcon liebte diese „Was wäre wenn?“-Geschichten, die gelegentlich für harmlose Lacher sorgten, aber nicht immer ihre Zeit zu überdauern vermochten - weil sie dem "Was wäre wenn" gar nicht ernsthat nachgingen, es nicht ausloteten. – Ich hatte neulich Gelegenheit, mich mit einem Filmfreund über ein Phänomen zu unterhalten, das wir alle kennen: Wir schauen uns einen Film an, der weitum als Klassiker gefeiert wird – und sind leicht von ihm enttäuscht. „Passport to Pimlico“ gilt zumindest in England als kleiner Klassiker; mir bereitete er längst nicht das erwartete Vergnügen. Ich verstehe, dass er mehr an seine Zeit gebunden ist als zum Beispiel die grossen Ealing Studio Comedies mit Alec Guinness. Aber daran allein kann es nicht liegen. Hat es vielleicht mit der verpassten Chance zu tun, einem anarchischen Aufbegehren sein Anarchisches wenigstens teilweise zu lassen? Verliess man sich zu sehr auf die schrulligen Typen und machte  aus der Idee mit Potential das, was oft mit dem Beiwort „charming“ versehen wurde?  --- Und doch kommt man nicht umhin, an die witzelnden Filme zu denken, die England in der zweiten Hälfte der 50er heimzusuchen begannen und muss zugeben: Man hat es mit einer schätzenswerten, wenn auch zu harmlosen kleinen Komödie zu tun.

Montag, 28. Mai 2012

Weltraumfolie und Drogen: THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA

THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA
USA 1968
Regie: Ira Cohen
Darsteller: Ira Cohen, Angus MacLise, Hetty MacLise, Peter Birnbaum, Robert LaVigne, Tony Conrad, Beverly Grant, Jack Smith, Ziska Baum, Loren Standlee u.a.

"There is the science of mirrors and there is the magic of mirrors." (Ian MacFadyen im Booklet der DVD des Films)


"Mylar" ist der bekannteste von mehreren Handelsnamen einer speziellen Polyesterfolie, die sehr leicht und dabei besonders reißfest und in sonstiger Hinsicht widerstandsfähig ist. Mit Aluminium beschichtet, ist Mylar auch gasdicht und reflektiert bis zu 99% des auftreffenden Lichts. Die vielfältigen Anwendungen des Materials reichen von Lebensmittelverpackungen bis zur Nutzung im Weltraum, etwa in Raumanzügen der Nasa, zur thermischen Isolierung von Satelliten und als Sonnensegel zum Antrieb der Sonde Cosmos 1 (die allerdings schon beim Start abstürzte). Der New Yorker Fotograf und Poet Ira Cohen (1935-2011) hingegen kam auf eine gänzlich andere Anwendung: In seiner Wohnung in der Lower East Side von Manhattan richtete er sich Mitte der 60er Jahre mit metallbeschichteter Folie eine Mylar Chamber ein, ein flexibles Spiegelkabinett. Dort schoss er im Lauf der Jahre Tausende Fotos, meist Portraits von Künstlern aller Art und von seinen Freunden und Bekannten. Seinerzeit recht bekannt wurde etwa ein Portrait von Jimi Hendrix. Hier und auf anderen Websites kann man sich einige weitere Beispiele ansehen. Aber nicht nur in der Mylar Chamber, sondern auch auf Cohens ausgedehnten Reisen, die ihn vor allem zu damaligen Hippie-Anziehungspunkten wie Marokko, Indien und Nepal führten, kam die leichte und strapazierfähige Folie zum Einsatz. 1968 reifte der Entschluss zum nächsten Schritt: Warum nicht auch einen Film in der Mylar Chamber drehen? Das Ergebnis, THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA, kann man getrost als ultra-psychedelisch bezeichnen.


1961 war Cohen für vier Jahre nach Marokko gegangen, wo er mit anderen Marokko-Exilanten aus der Literatur- und Subkulturszene wie William S. Burroughs, Paul Bowles und Brion Gysin in Kontakt trat, ein Magazin für Beatnik-Literatur und obskure Themen wie Exorzismus herausgab und in Zusammenarbeit mit Bowles und Gysin Tonaufnahmen marokkanischer Sufi-Musiker machte (einige Jahre später machte Stones-Gitarrist Brian Jones einen Teil dieser Musiker durch das von ihm produzierte Album Brian Jones presents the Pipes of Pan at Joujouka international bekannt) und als LP herausbrachte. Nach seiner Rückkehr nach New York 1966 veröffentlichte Cohen unter einem Pseudonym ein Hashish Cookbook, das seine damalige Freundin in Tanger geschrieben hatte, und er begann mit Mylar zu experimentieren. Cohen war damals in die Ostküsten-Avantgarde- und Underground-Szene integriert, die sich um Leitfiguren wie Andy Warhol und Jack Smith scharte, und aus diesem Kreis stammte die Mehrheit der rund 40 Beteiligten an THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA. Vor allem der Underground-Regisseur, Fotograf und Aktionskünstler Jack Smith, dessen berühmt-berüchtigter erster Film FLAMING CREATURES (1963) bei der Premiere von der New Yorker Polizei beschlagnahmt wurde (was eine heftige öffentliche Debatte auslöste), wurde zu einem Vorbild und Freund von Cohen, und er spielte auch in THUNDERBOLT PAGODA mit. Die Gesamtheit der Mitwirkenden am Film bekam von Cohen die ad-hoc-Bezeichnung The Universal Mutant Repertory Company verpasst.


Weil sich der Eindruck des Films kaum angemessen in Worte fassen lässt, zunächst hier und hier zwei kurze Ausschnitte auf YouTube. Es wurde keineswegs der ganze Film als Mylar-Reflexion gedreht, dafür kamen auch andere Stilmittel wie Mehrfachbelichtung und durch Prismenvorsätze erzeugte kaleidoskopische Split-Screen-Effekte zum Einsatz. Aber auch die durchaus vorhandenen "plain" gefilmten Sequenzen wirken völlig surreal, weil alle Darsteller mit äußerst fantasievollen Masken und Kostümen versehen waren, mit merkwürdigen Objekten hantierten und sich wie in Trance oder im Drogenrausch bewegten. Hauptverantwortlicher für Masken, Kostüme und das sonstige Produktionsdesign war Robert LaVigne, ein Maler aus San Francisco, der in den 50er Jahren zum Dunstkreis der Beatniks um Allen Ginsberg gehört hatte.


Die erste Hälfte des rund 22 min langen Films wurde in der Mylar Chamber gedreht, die zweite im Freien auf einer Lichtung (aber auch hier teilweise unter Nutzung der Folie). Die letzten zwei oder drei Minuten bestehen aus gänzlich abstrakten wunderschönen bläulichen Bildern, die mit Hilfe von flüssigem Quecksilber, das auf horizontal gehaltener Folie erratisch umherfloss, gedreht wurden. Wenn man will, kann man in den Film so etwas wie eine rudimentäre Handlung, die schamanistische oder alchemistische Rituale enthält, hineinlesen, man kann es aber auch lassen. Offensichtlich ist jedoch, dass auf die Wirkung von Opium, LSD und anderen psychoaktiven Substanzen angespielt wird. Das wurde von Cohen noch betont, indem er einigen der Gestalten Namen wie The Majoon Traveler (gespielt von Cohen selbst) oder The Methedrine Cardinal gab.


Ein beträchtlicher Teil der hypnotischen Wirkung des Films beruht auf dem flirrend-fiebrigen Soundtrack, der unter Leitung von Angus MacLise von einer Combo eingespielt wurde, die ebenfalls einen ad-hoc-Namen erhielt, nämlich The Joyous Lake. Sie bestand aus Angus und seiner Frau Hetty MacLise, Tony Conrad, Ziska Baum, Loren Standlee und drei weiteren Mitspielern - sie alle spielten auch im Film mit. Der größte Teil der Musik wurde 1968 live zu einer Vorstellung des Films in einer New Yorker Kirche eingespielt. Angus MacLise ist heute am ehesten dadurch in Erinnerung, dass er der erste Percussionist von The Velvet Underground war. In den frühen 60er Jahren spielten er und Tony Conrad zusammen mit La Monte Young, John Cale und anderen in der Formation Theatre of Eternal Music, auch als The Dream Syndicate bekannt, wo sie zu Mitbegründern von Minimal Music und Drone Music wurden. Sein damaliger Mitstreiter John Cale holte MacLise dann zu den gerade gegründeten Velvet Underground, aber als 1965 der erste bezahlte Auftritt anstand, verweigerte sich der radikale MacLise dieser "Kommerzialisierung" der Band, stieg aus und wurde durch Maureen Tucker ersetzt. Ähnlich wie Cohen, begab sich MacLise später zusammen mit Hetty auf ausgiebige Reisen in Länder wie Indien und Nepal. Durch langjährigen Drogenkonsum und eine Tuberkulose geschwächt, starb Angus MacLise 1979 mit 41 Jahren in Kathmandu. Sein musikalisches Werk, das Minimal Music mit orientalischen Rhythmen verband, blieb lange weitgehend unbekannt und unveröffentlicht, erst seit Ende der 90er Jahre kam es zu CD-Veröffentlichungen. Eine CD von 1999 mit dem Titel The Invasion of Thunderbolt Pagoda enthält als Titelstück eine 39-minütige Version des Filmsoundtracks, die man hier auf YouTube anhören kann [leider inzwischen gelöscht].


MacLises alter Freund und Kollege Tony Conrad erweiterte unter dem Einfluss seiner damaligen Frau Beverly Grant, die als Schauspielerin in diversen Undergroundfilmen der 60er Jahre mitwirkte und zu Warhols sogenannten Superstars in der Factory gehörte, seine Interessen von der Musik in Richtung Experimentalfilm (sein THE FLICKER von 1965 gilt als einer der ersten Structural Films), später zur Videokunst, und er ist bis heute in verschiedenen Kunstrichtungen aktiv. Am bekanntesten wurde er wohl durch seine Zusammenarbeit mit der deutschen Band Faust, in der die Synthese von Minimal Music und Krautrock gelang. Das Poeten- und Musikerpaar Ziska Baum und Loren Standlee lebte Mitte der 60er Jahre in einer Hippie-Kolonie auf der Insel Formentera, dann in Paris, wo sie zur ersten Inkarnation der anglo-französischen Band Gong gehörten, bevor sie schließlich nach New York übersiedelten und über das Filmemacherpaar Sheldon und Diane Rochlin (die auch in THUNDERBOLT PAGODA mitwirkten und die Kamera führten) zu Cohens Kreis stießen. Über Raja Samyana, Henry Flynt und Jackson Mac Low, die restlichen Mitglieder von The Joyous Lake, weiß ich nichts zu berichten. [UPDATE: Henry Flynt ist ein Philosoph, Wissenschaftler, Konzeptkünstler, experimenteller Musiker, und ein Aktivist gegen den etablierten Kulturbetrieb. Seit Ende der 50er Jahre gehörte auch er zum Dunstkreis von Tony Conrad und La Monte Young. Mehr zu seiner Biographie und seinen Aktivitäten gibt es hier. In seiner Musik, von der es mittlerweile einiges auf YouTube gibt, vereint er unter dem Dach der Minimal Music Elemente von Hillbilly und Blues über Elektronik bis zu indischen Ragas. 2013 war ihm in Düsseldorf und Karlruhe eine Ausstellung gewidmet (siehe auch dieses einstündige Video mit ihm).]


So außergewöhnlich THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA ist, ist er doch nicht im luftleeren Raum entstanden. An Vorgängern würde ich zunächst Kenneth Angers INAUGURATION OF THE PLEASURE DOME benennen. Von den Filmen, die ich kenne, ist jedoch CHUMLUM (1964), der letzte Film des jung verstorbenen Ron Rice, THUNDERBOLT PAGODA am ähnlichsten. Es gibt auch personelle Verbindungen zwischen den Filmen: Angus MacLise war auch bei CHUMLUM für den Soundtrack verantwortlich, und Beverly Grant und Jack Smith spielten mit. Den auf manchen Websites behaupteten Einfluss von Sergej Paradschanow auf Cohens Film halte ich dagegen für eher unwahrscheinlich.


Wie schon angedeutet, machte Cohen lange Reisen, die ihn nach Äthiopien, Japan, Indien oder Nepal (wo er in Kontakt mit den dort lebenden MacLises stand) führten, lebte auch eine Zeit lang in Amsterdam, und zwischendurch immer wieder in New York. Er fotografierte weiterhin und schrieb Gedichte, und gelegentlich gab er Magazine und handwerklich hochwertig produzierte Bücher heraus. Dagegen drehte er nur noch einen Film, nämlich eine Doku über das Kumbh-Mela-Fest in Indien, das von den Teilnehmerzahlen her das größte religiöse Fest der Welt ist. Ein einstündiges Fernsehgespräch mit ihm darüber kann man hier ansehen. An einer digitalen Veröffentlichung von THUNDERBOLT PAGODA hatte er lange kein Interesse, aber Mitte der 2000er Jahre konnte er dazu überredet werden. Der in der IMDb als Produzent von THUNDERBOLT PAGODA bezeichnete Will Swofford hat in Wirklichkeit nicht den Film, sondern die 2006 erschienene DVD produziert. In Cohens Wohnung fanden sich auch noch rund vier Stunden an Outtakes, die zur Anreicherung der DVD genutzt wurden. Einerseits fügte Cohen dem doch recht kurzen Film einen optionalen achtminütigen Prolog hinzu, der einen eigenen neuen Soundtrack erhielt, und der nicht farbig, sondern monochrom in Sepia viragiert ist. Er zeigt die Protagonisten überwiegend nicht in den Masken und Kostümen des Hauptfilms, sondern in schlichter Aufmachung bei merkwürdigen Verrichtungen im Schlamm, die an Rituale von Stammesangehörigen in Neuguinea denken lassen. Wer schon mal das Bild in meinem Google-Profil genauer betrachtet hat, wird bei Ansicht des Prologs ein Déjà-vu haben ...

Prolog: Angus MacLise (links oben), Ira Cohen
Und andererseits montierte Swofford aus Teilen der Outtakes einen 30-minütigen Bonusfilm mit dem Titel BRAIN DAMAGE, ebenfalls mit neuem Soundtrack. Eine Slideshow von Mylar-Fotos, ein konfuses Kurzportrait von Cohen, das einer seiner Söhne und Swofford drehten, und ein schön gestaltetes Booklet bilden weiteres Bonusmaterial. Für den eigentlichen Film gibt es auch zwei zusätzliche alternative Soundtracks. Der eine wurde 2003 von Acid Mothers Temple SWR, einer Fraktion des verzweigten japanischen Band-Projekts Acid Mothers Temple, bei einem Festival in Schottland live eingespielt. Der andere wurde 2006 von der US-Band Sunburned Hand of the Man, die in den 2000ern Cohen auch gelegentlich bei Lesungen seiner Gedichte begleitet hatte, ebenfalls live aufgenommen. Die Original-DVD von 2006 ist inzwischen out of print und wird stark überteuert gehandelt, es scheint aber neuerdings eine Neuauflage zu geben.

Abstrakte Bilder am Schluss

Montag, 21. Mai 2012

Gerechtigkeit und Freude küssen sich oder Whoknows Presents begrüsst zwei Gastautoren


Eigentlich wollte ich diese Begrüssung zweier Gastautoren, die das enge Band zwischen der Schweiz und Deutschland erneut betont, mit dem Titel "Merkel und Blocher begegnen einander" zieren, sah dann aber ein, dass uns das Privatleben der beiden Politiker nichts angeht und auch kaum interessiert. Also griff ich auf die Rede des alten Löwenjelm in "Babettes Gæstebud" (1987) zurück, einem Film, den ich so sehr verehre, dass ich ihn ohnehin nicht zu besprechen wage. - Denn Gerechtigkeit (wir haben zwei zusätzliche gute Leute verdient) und Freude (es waren zwei Wunschkandidaten) küssen sich heute wirklich.

QBrick ist nicht nur der Mann, der mich regelrecht zur Besprechung von Hitchcock's "Rebecca" antrieb, um mir dann doch in gewissen Punkten überzeugend zu widersprechen; er half mir auch beim hoffnungslosen Versuch, das cineastische Interesse einer Schweizer Community zu wecken. david wiederum ist ein ausserordentlich spannender Besprecher von Filmen, den sicher viele von euch von einem anderen Blog her kennen - und dessen vielfältige Interessen Beachtung verdienen. Es erfüllt mich mit Stolz, ihn, der sich schon immer auch dem Kontext verpflichtet fühlte, bei uns zu wissen.

Mögen die beiden neuen Gastautoren jedoch das über sich mitteilen, was ihnen am Herzen liegt - und uns ein wenig auf ihre Schwerpunkte vorbereiten!

QBrick über sich:

     Mein Name sei QBrick, und ich schaue Filme. Wie man aus meinem Nicknamen leicht ableiten kann, mag  ich Backsteine, verehre Stanley,  schwärme für 007-Soundtracks - und wuchs mit Kühen auf. Während der  letzte Punkt eher sekundäre Priorität in meinem Leben besitzt, sind die anderen Punkte als pianospielender Architekturstudent topaktuell. Wie von meinem Vorredner erwähnt, werde ich bei meinen Einträgen auch auf Musik und Architektur in Filmen eingehen. Wer also wissen will, wieso der War-Room dreieckig sein musste oder der Hauptsitz des chinesischen Propagandafernsehers CCTV neuerdings in Chicago steht, wird bei mir (vielleicht) auf Antworten stossen.

david über sich:

      Hallo, ich heiße David und ich bin filmsüchtig! David ist mein richtiger Name, auch wenn manche Leute mich aus völlig unerfindlichen Gründen „Daniel“ oder „Dave“ (ausgesprochen: Däif) oder „Martin“ nennen. Wohnhaft bin in der Stadt der Dichter und Denker im „Grünen Herzen Deutschlands“, in der cinematographischen Topographie also in einer Wüsten-Region, wo gute Arthouse-Oasen selten sind. Deshalb stapeln sich in meinem natürlichen Habitat (umgangssprachlich „Zimmer“) nebst Blättern, Wollmäusen und ganzen Bücherhorden auch DVDs zu kunstvollen Türmen. Ich habe was mit Geschichte und Osteuropa studiert – Interessen, die gelegentlich in meinen Besprechungen durchscheinen werden, aber nicht unbedingt müssen. Bei einem anderen Blog schreibe ich bereits als Gastautor formell wenig raffinierte, dafür umso ungestümere und spontanere Texte und Textfragmente. Es freut mich, dass „Whoknows Presents“ mir nun eine Plattform bietet, in der ich mein obsessives Mitteilungsbedürfnis in Sachen Film in vielleicht etwas durchdachteren Formen befriedigen kann. Um „Muttis“ Vater zu paraphrasieren: Seien wir mal alle gespannt, was da hinten rauskommen wird!


Ich hoffe, unsere Leserschaft werde die unerwartete Bereicherung von "Whoknows Presents" mit ebenso grosser Begeisterung aufnehmen wie Manfred und ich, QBrick und david herzlich willkommen heissen - und ihre zukünftigen Beiträge, auf die wir uns riesig freuen, mit Interesse kommentieren.

Whoknows 

Donnerstag, 10. Mai 2012

Gastautor gesucht

Liebe Leserin, lieber Leser!

Wer gelegentlich einen Blick in unser Blog wirft, wird bemerkt haben, dass Manfred Polak und ich nicht nur immer wieder mit längeren Besprechungen zum Teil weniger bekannter Filme anrücken, sondern uns auch dem Motto „Film und Kontext“ verpflichtet fühlen. Dies erfordert neben mühsamer Schreibarbeit eine zusätzliche Bereitschaft für aufwendige Recherchen Und da wir euch doch mehr oder weniger regelmässig mit Posts bedienen wollen, können wir uns manchmal des Eindrucks nicht erwehren, man lebe nur noch für seine Filmbesprechungen und nehme sich kaum noch Zeit für einen Abend, der einfach der Ablenkung etwa mit belanglosen Filmen dient...

Wir haben uns deshalb entschlossen, nach einem Gastautor Ausschau zu halten, der „Whoknows Presents“ etwa alle vier Wochen mit einem Beitrag bereichert und uns damit mehr entlastet als man sich vorstellen kann.. – Es ist sicher nicht leicht, einen solchen Gastautor zu finden, weil die meisten Leute ihr eigenes Ding durchziehen wollen. Andererseits sind einige Blogs am Einschlafen, und ein Blogger oder ein Mitglied eines Gemeinschaftsblogs könnte es als Erleichterung empfinden, nicht jede Woche Lesefutter produzieren zu müssen. Angesprochen dürfen sich natürlich auch Filmfreunde fühlen, die sich gar nicht auf ein eigenes Blog und die damit verbundene Arbeit einlassen möchten. – Denkbar wären unter Umständen abwechselnde Gastautoren, die in gewissen Abständen ihre Beiträge (Besprechungen eines Films oder allgemein filmbezogene Artikel) bei uns unterbringen.

Was wir bieten: angenehme Umgangsformen und ein Bemühen, eure Artikel ebenso hervorzuheben wie unsere (wir sind der Ansicht, dass Posts gelesen werden sollen und lassen deshalb grundsätzlich ein paar Tage vergehen, bevor wir eine neue Besprechung reinstellen), eine nicht mit den „Top-Blogs“ zu vergleichende, aber treue und interessierte Leserschaft. – Was wir erwarten: ein gewisses Niveau, weil diese Leserschaft Billigst-Abfertigungen nicht goutiert (wer schon mal Teil oder Leiter eines Blogs war, weiss, was wir damit meinen, ansonsten könnte man sich mit einer Schreibprobe beweisen). – Gestalterisch wäre einem Gastautor jede Freiheit gewährt, inhaltlich hingegen von gewissen Überschreitungen (Rassismus, Pornographie) abzusehen.
Wer sich angesprochen fühlt, möge sich bei Manfred Polak oder mir (oder auch bei beiden gleichzeitig) melden. Wir würden uns freuen, einen Gastautor oder auch deren zwei bei uns begrüssen zu dürfen, wobei man sich über die Frequenz der Beiträge einigen könnte. Unsere Leser haben ein wenig Abwechslung verdient – und wir müssen uns gelegentlich einfach ein paar faule Abende gönnen.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Warum der Film mit der toten Titelfigur funktioniert

Für die schlaflosen Nächte, die mir diese Spoiler nach Möglichkeit umgehende Besprechung bereitete, ist ein sympathischer junger Film-Freak und Musik-Spezialist zuständig, der als "travel" mit mir über den Score von "Rebecca" korrespondierte. Er hielt ihn für alles andere als gelungen, was mich zum Nachdenken und zum ihm widersprechenden Schreiben anregte. Wer mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, möge sich an "travel" wenden; denn ohne ihn, dem ich meine Auseinandersetzung mit Hitchcock's Hollywood-Erstling hiermit widme, fände man an dieser Stelle die Besprechung eines grandiosen Schlachten-Epos aus dem Fürstentum Liechtenstein.

Rebecca
(Rebecca,  USA 1940)

Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: Laurence Olivier, Joan Fontaine, George Sanders, Judith Anderson, Nigel Bruce, Reginald Denny, C. Aubrey Smith, Gladys Cooper, Florence Bates, Leo G. Carroll u.a.


Alfred Hitchcock drehte zwei Filme, deren Titel auf eine Frauenfigur verweisen. Einer dieser Filme, "Marnie" (1964), sollte dem mittlerweile zum Meister herangereiften Regisseur eigentlich vollumfänglich gelungen sein. Und doch müssen Verehrer wie ich ihn immer wieder vor Angriffen in Schutz nehmen. Von "Rebecca" wiederum könnte man aus verschiedenen Gründen annehmen, er sei - obwohl er mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde - gar nicht in der Lage, zu funktionieren. Trotzdem bestätigt jede Sichtung, dass ihm mit Recht der Ruf anhaftet, ein kleiner Klassiker mit verzeihlichen Schwächen zu sein. Man sagt zwar, er stehe irgendwo zwischen der "britischen" und der "amerikanischen" Phase des Meisters; seiner Bedeutung tut dies keinen Abbruch. - Diese Besprechung möchte sich mit der Frage beschäftigen, warum "Rebecca", das Werk mit der toten Titelfigur, eigentlich nicht funktionieren kann - und warum es dies dennoch tut.


Hollywood-Mogul David O. Selznick verführte den mittlerweile erfolgreichen Briten 1938 bekanntlich  zur Unterschrift eines seiner berüchtigten Sieben-Jahres-Verträge und stellte ihm die Regie eines "Titanic"-Films  in Aussicht.  Da Hitch an einem solchen Streifen überhaupt nicht interessiert war, schlug er dem Produzenten die Verfilmung des erfolgreichen Romans "Rebecca" von Daphne du Maurier als erstes gemeinsames Projekt vor. Die Reaktion auf sein Drehbuch, das in britischer Manier dem Film zuliebe von der Romanvorlage abwich und deren altmodischen "Gothic"-Touch mit Humor zu kontern versuchte, liess ihn aber erkennen, wie wenig ein Regisseur in Hollywood und speziell unter Selznick zu sagen hatte. Selznick, Verfechter möglichst dem Werk getreuer Verfilmungen mit vielen Zitaten aus dem Roman, liess den Neuen in einem seiner Memos wissen: "We bought 'Rebecca', and we intend to make 'Rebecca'." - Dieses Memo mit seiner mehr als deutlichen Botschaft stellte Hitchcock vor ein grosses Problem. Denn Selznick verlangte nicht nur die Verfilmung einer hoffnungslos altmodischen Geschichte, sondern die eines Romans, der sich gar keinem eindeutigen Genre zuordnen lässt. "Rebecca" schwankt unverkennbar zwischen Romanze, "Gothic"-Melodrama und Kriminalgeschichte. Er ist, und das fällt jedem Leser unangenehm auf, eine seltsame Mischung, die vor allem auf weibliche Leser abzielt und nicht so recht funktionieren will. Ein Stoff, der dem Thriller-Spezialisten in "Reinform" sicher nicht zusagen konnte. - Hinzu kam, dass Selznick im Grunde genommen einen britischen Film forderte, jedoch einen, der in den Staaten gedreht werden sollte. All dies beschäftigte den Regisseur, der später gegenüber Truffaut behaupten sollte, "Rebecca" sei gar kein Hitchcock-Film, mehr als das Getue um die Besetzung, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Projekt lenken sollte wie kurz zuvor bei "Gone With the Wind" (1939).

Obwohl sich Selznick mehr als erwünscht in die Dreharbeiten einmischte, hatte Hitchcock Glück: Der Produzent war noch so sehr mit der Post-Production des Mega-Hits um die schöne Scarlett  beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie sein "Knecht" heimlich alles unternahm, um  möglichst viel vom drohenden Durcheinander einer "werkgetreuen" Verfilmung abzuwenden. Und da er sich an seine aus England importierte Arbeitsweise hielt, nur das zu drehen, was für den fertigen Film benötigt wurde, blieb dem Produzenten, der es liebte, seine Filme im Schneideraum selber zusammenzusetzen, letztlich nur das Toben und die Flucht in eine Depression. - Hitch hatte (vom geforderten Ende abgesehen) weniger auffallende Veränderungen an der Vorlage vorgenommen; er hatte ihr jedoch mit allen erdenklichen filmischen Mitteln so etwas wie Einheitlichkeit zu verleihen versucht, den zitierten (!) Worten des Romans durch die Kraft der Bilder  gelegentlich sogar subtil widersprochen. - Das Resultat entsprach zwar nicht seinem gewohnten Desinteresse an Werktreue, wenn es um Adaptionen ging; es sollte aber eine gute Vorbereitung für spätere Psychothriller werden.

„Rebecca“ beginnt mit einem Traum der namenlosen Hauptfigur, der vom düsteren Anwesen Manderley handelt, das sie einst zusammen mit ihrem Mann bewohnte. Die eindringlichen, wortgetreu vom Roman übernommenen Bilder („It seemed to me I stood by the iron gate, … and for a while I could not enter for the way was barred to me. Then, like all dreamers, I was possessed of a sudden with supernatural powers…“) müssen zwangsläufig in eine zum Traum gehörende Geschichte münden, in der sich der Zuschauer mit der Erzählerin identifizieren kann. Könnte er dies nicht, würde sie im Gegensatz zum Roman leicht als übermässig tollpatschiges, höchstens Gelächter auslösendes Wesen wirken. - Da diese Geschichte aber auch Bestandteil des Traums ist (man beachte den Übergang vom eigentlichen Traum zu den Schuhen des Fremden, der an der Klippe steht und sich scheinbar das Leben nehmen will!), gilt für sie das, was für alle Träume gilt: Es gibt nichts Eindeutiges, Gesehenes und Wirkliches stimmen nicht unbedingt überein, können sich sogar widersprechen. Auch darauf weisen die ersten Traumbilder bereits raffiniert hin: Die beinahe singende Frauenstimme aus dem Off erzählt von der „perfect symmetry of those walls“, deren sie ansichtig wurde. Was ihr Traum jedoch zeigt, ist die hinter Ästen verborgene dunkle Ruine eines wirren, unheimlichen Gebäudes, wie es mit seinen verschiedenen Flügeln höchstens jenem Baustil entsprungen sein konnte, der im Zeitalter der Romantik als „Gothic“ beliebt war. Von Symmetrie keine Spur. Der Zuschauer ist vorbereitet: Er muss sich mit der Hauptfigur identifizieren, aber auch alles mit ihren – unzuverlässigen - Augen  wahrnehmen:

Eine schüchterne junge Frau arbeitet als Gesellschafterin für eine unsympathische amerikanische Matrone. Während eines gemeinsamen Aufenthalts in Monte Carlo lernt sie den Engländer Maxim de Winter kennen, dessen erste Frau Rebecca ein Jahr zuvor unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Obwohl Maxim ihren Tod offenbar noch nicht überwunden hat, freundet er sich rasch mit dem unscheinbaren Wesen, das er schroff mit „you little fool“ anredet, an. Die beiden heiraten und begeben sich nach Cornwall, wo die „zweite Mrs. de Winter“ zusammen mit ihrem Mann in dessen düsteren Anwesen Manderley leben soll. Dieses Anwesen ist, wie sie rasch erkennen muss, noch völlig durchdrungen vom Geist der Verstorbenen, deren Schönheit eine Macht auf alle, die sie kannten, ausübte. Insbesondere Mrs. Danvers, die Haushälterin, begegnet dem zunehmend unsicheren Wesen mit unverhohlenem Hass. Sie scheint derart von der Toten besessen zu sein, dass sie deren Nachfolgerin auf jede erdenkliche Weise vertreiben will ("She's too strong for you. You can't fight her."). Was aber denkt Maxim, der seine zweite Frau vorgewarnt hat ("I'm very difficult to live with") und nun zu allem zu schweigt? 


Was als romantische Liebesgeschichte begann, wandelt sich in Manderley zum "Gothic"-Melodrama, das die Stimmung des einleitenden Traums aufnimmt. Und in diesem Teil des Films tobt sich Hitchcock aus, findet erfolgreich Mittel und Wege, um aus dem banalen Roman ein Leinwandereignis zu machen, das zwar nicht mit einer Thriller-Handlung glänzt, aber eine Atmosphäre zu erzeugen vermag, die den Worten der Vorlage weit überlegen ist. - Die Geschichte der namenlosen Frau ist, wie der Regisseur gegenüber Truffaut erwähnte, eine Aschenputtel-Geschichte, und als Aschenputtel lässt er Joan Fontaine auch auftreten: Die Räume des Anwesens sind viel zu gross für sie, deren Alltagskleidung (die Jacke, die sie trägt, wurde sehr beliebt und ging als "Rebecca"-Jacke in die Geschichte ein) einer Schlossherrin gar nicht angemessen ist. Sie versucht sich in den riesigen Sesseln noch kleiner zu machen als sie in Wirklichkeit ist (als möchte sie in ihnen verschwinden). Und während sie sich in diesem Labyrinth von einem Anwesen verliert, triumphiert die Tote an jeder Ecke, hinter jeder Türe, die aufgeht, erstrahlt das Licht Rebecca's  ("The most beautiful room in the house. It was Mrs. de Winter's room."). - Im Büro der Verstorbenen, das jetzt zum Büro der Namenlosen wird, zeugt jedes geschwungene "R" (Selznick tat sich schwer mit der Auswahl aus verschiedenen Vorschlägen) auf Briefpapier und Notizblöcken von ihrer bleibenden Anwesenheit und Macht. Diese schüchtert die junge Frau dermassen ein, dass sie prompt eine kleine Statue umstösst und die Scherben in einer Schublade versteckt - Und während Aschenputtel, sich vergeblich an ihren Mann klammernd, von diesem Toten-Schrein immer mehr vereinnahmt wird, nicht einmal die Aufmunterungsversuche von Maxim’s Schwester wahrnimmt, scheint Mrs. Danvers (eine der unheimlichsten Frauengestalten, die ich kenne) sich nicht schreitend zu nähern, sondern zu schweben. Plötzlich steht sie hinter ihr und bringt den Geist der Verstorbenen, die sich der Zuschauer selber ausmalen muss, weil man kein Bild von ihr sieht, mit sich.

Das von Rebecca beherrschte Manderely, vom Zuschauer zum grossen Teil mit den Augen der zweiten Mrs. de Winter wahrgenommen (man beachte die langen Tische, die sie zunehmend von Maxim trennen), ist ein derart von Geheimnissen durchdrungener Ort, dass ihm der intensive Einsatz von Licht und Schatten angemessen ist. Ein virtuoses Spiel mit den Schwarzweiss-Bildern erweckt den Eindruck, die Tote sei überall, könne jederzeit Gestalt annehmen. Als sich die Namenlose in Rebecca’s Zimmer wagt, entdeckt sie – zusammenfahrend - hinter Seidenvorhängen eine dunkle Gestalt. Es ist jedoch nicht Rebecca, sondern Mrs. Danvers, die ihrer früheren Herrin noch immer ergeben ist und der Unerwünschten deren auserlesene Kleidung zeigt (sie streichelt ihre Wange an einem der Pelzmäntel), ihr sogar vorführt, wie sie ihr einst die Haare bürsten durfte. Man erkennt in dieser Szene gern Andeutungen einer einstigen lesbischen Beziehung, die sich  nun ins Nekrophile gewendet hat. Vor allem aber ist es der Wahnsinn, der vom Gesicht und den Worten der Haushälterin Besitz ergreift: „Do you think the dead come back and watch the living?“ – Die Szene endet mit dem vieldeutigen übermässigen Weiss der Gischt, die gegen die Klippen unter Rebecca’s Fenster schlägt, aus dem die Hauptfigur hier noch einen unschuldigen Blick warf, an dem sie aber später aufgefordert wird, in den Tod zu springen, damit sie Rebecca nicht länger ihren Platz an der Seite von Maxim de Winter wegnähme.
Besonders intensiv setzt Hitchcock Licht und Schatten in einer Szene ein, in der sich das junge Ehepaar Filme aus den unbeschwerten Flitterwochen anschaut. Die Haushälterin betritt den Raum und berichtet von der verschwundenen Statue im Büro. Als Maxim’s Frau ihrem Mann anschliessend von dem Missgeschick erzählt, fordert er sie auf, auch Mrs. Danvers aufzuklären. Und plötzlich verändert der Projektor, der Licht und Schatten auf die Gesichter der beiden wirft, ihre Ausdrücke ungemein, möglicherweise trügerisch: Während „Aschenputtel“ den letzten Rest ihrer Hoffnung verliert, wirft ihr Maxim einen Blick entgegen, der so furchterregend ist, dass er einen Mann zeigt, dem alles, auch das Grausamste zuzumuten ist. Und im Hintergrund tobt noch immer das unbeschwerte junge Glück in seinen Flitterwochen herum… 

Die Notwendigkeit, sich auf das Atmosphärische konzentrieren zu müssen, war für Hitchcock eine hervorragende Vorbereitung für seine späteren Psycho-Thriller, die von „Rebecca“ mehr profitieren sollten, als er je zugegeben hätte. Hinzu kam, dass er in Franz Waxman einen Komponisten fand, mit dem er sich von Anfang an hervorragend verstand. Selznick hatte Waxman ursprünglich als „Sicherheits“-Komponisten für sein Grossprojekt „Gone With the Wind“ engagiert; jetzt sollte er den Score zu „Rebecca“ schreiben. Und auch Waxman schaffte es, den Produzenten in den Wahnsinn zu treiben: Er begann, was damals unüblich war, erst zu komponieren, als ihm der fertige Schnitt vorlag. Seine Musik mag zwar heute etwas altmodisch erscheinen, das taktgenaue Komponieren kam aber dem musikalischen Regisseur sehr entgegen und half ihm zusätzlich, den Roman zu einem spannenden Psychothriller zu verarbeiten. – Waxman, der später seine Musik zu „Rebecca“ als seine gelungenste Arbeit betrachtete, leistete in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Der Einsatz verschiedenster Stilmittel, die es ihm ermöglichten, jeder Figur ein Leitmotiv zuzuordnen (die tote Rebecca bekam ein regelrechtes „Gespensterorchester“, das aus einer elektrischen Orgel und einem Novachord bestand), entfaltete eine ähnlich eindringliche Wirkung wie das durchgehende erzählende Begleiten, das bis zum „Mickey-Mousing“ ging (die Musik trippelt mit dem frisch verheirateten Paar die Treppe vom Standesamt herunter). Und wenn sich das Orchester zusammen mit der Hauptfigur zögernd dem Bootshaus, in dem noch Licht brennt, nähert, entsteht eine nicht zu überbietende Gänsehaut-Stimmung.
Was Waxman’s Musik für den Film bedeutet, zeigt sich an dessen letztem, enttäuschenden Viertel. Das „Gothic“-Melodrama verwandelt sich, worauf bereits hingewiesen wurde, gegen Ende in eine Kriminalgeschichte, an deren Verlauf nicht zuletzt Rebecca’s Cousin und ehemaliger Liebhaber (hervorragend verkörpert von einem jungen George Sanders) beteiligt ist. Diese Kriminalgeschichte ist derart dialoglastig, dass die Musik kaum zur Geltung kommt. Dementsprechend wirkt der letzte Teil von Hitchcock’s Hollywood-Einstand mit seiner Polizei-Befragung im Vergleich zum Rest nicht nur dilettantisch gemacht, sondern derart einschläfernd, dass selbst Kenner (inklusive Truffaut!) einzelne Aspekte nicht mitbekommen, weil sie an einem simplen "Whodunit" nach dieser überwältigenden Atmosphäre gar nicht interessiert sind. Man würde gern erfahren, was der Regisseur aus diesem abschliessenden Teil des Romans (Daphne du Maurier hielt ihn wohl für notwendig, weil über den "Gothic Hero" Maxim Klarheit herrschen musste) gemacht hätte, wäre er nicht zu einer „werkgetreuen“ Verfilmung verpflichtet gewesen.

„Rebecca“ ist ein Film mit Schwächen, und man mag Selznick die Schuld für diese Schwächen in die Schuhe schieben. Dennoch gilt er zu Recht als Klassiker, der zugleich ein echter Hitchcock war, weil er dem Regisseur viel für spätere Arbeiten mit auf den Weg gab. Die namenlose Hauptfigur, die sich anfangs zögerlich, später entschlossen ihrem Mann an den Hals wirft (Hitch behauptete, die Aktivität der Frau wirke so echt, weil Laurence Olivier Joan Fontaine nicht als Partnerin gewollt habe), sollte ihn in mancherlei Hinsicht auf Frauenfiguren vorbereiten, die in seinen Meisterwerken (Ingrid Bergman in „Notorious“, 1946, ‚Tippi‘ Hedren in „Marnie“) auch zu Identifikationsfiguren wurden, dem Zuschauer als "Augen" dienten. – Wer an „Rebecca“ zurückdenkt, erinnert sich vor allem an das verängstigte Geschöpf in einem düsteren Anwesen, das scheinbar von einer Toten beherrscht wird. Dass man die Schwächen des Films, insbesondere dessen letzten Teil auszublenden vermag, zeigt, wie gut wenigstens die erste Zusammenarbeit mit dem gelegentlich hintergangenen Selznick funktionierte. Der vom "Master of Suspense" als Frauenfilm deklarierte Hollywood-Einstand erwies sich als Lehre, wie sie besser nicht hätte sein können. Hätten seine Meisterwerke ohne den Zwang, sich wenigstens ein einziges Mal intensiv auf eine Vorlage einlassen zu müssen, ihre atmosphärische Klasse je erreicht? --- Man darf in diesem Zusammenhang abschliessend darauf hinweisen, dass die Werke der einst gern gelesenen Daphne du Maurier grundsätzlich erst zu erblühen begannen, wenn ein guter Regisseur sie verfilmte.