Donnerstag, 10. Mai 2012

Gastautor gesucht

Liebe Leserin, lieber Leser!

Wer gelegentlich einen Blick in unser Blog wirft, wird bemerkt haben, dass Manfred Polak und ich nicht nur immer wieder mit längeren Besprechungen zum Teil weniger bekannter Filme anrücken, sondern uns auch dem Motto „Film und Kontext“ verpflichtet fühlen. Dies erfordert neben mühsamer Schreibarbeit eine zusätzliche Bereitschaft für aufwendige Recherchen Und da wir euch doch mehr oder weniger regelmässig mit Posts bedienen wollen, können wir uns manchmal des Eindrucks nicht erwehren, man lebe nur noch für seine Filmbesprechungen und nehme sich kaum noch Zeit für einen Abend, der einfach der Ablenkung etwa mit belanglosen Filmen dient...

Wir haben uns deshalb entschlossen, nach einem Gastautor Ausschau zu halten, der „Whoknows Presents“ etwa alle vier Wochen mit einem Beitrag bereichert und uns damit mehr entlastet als man sich vorstellen kann.. – Es ist sicher nicht leicht, einen solchen Gastautor zu finden, weil die meisten Leute ihr eigenes Ding durchziehen wollen. Andererseits sind einige Blogs am Einschlafen, und ein Blogger oder ein Mitglied eines Gemeinschaftsblogs könnte es als Erleichterung empfinden, nicht jede Woche Lesefutter produzieren zu müssen. Angesprochen dürfen sich natürlich auch Filmfreunde fühlen, die sich gar nicht auf ein eigenes Blog und die damit verbundene Arbeit einlassen möchten. – Denkbar wären unter Umständen abwechselnde Gastautoren, die in gewissen Abständen ihre Beiträge (Besprechungen eines Films oder allgemein filmbezogene Artikel) bei uns unterbringen.

Was wir bieten: angenehme Umgangsformen und ein Bemühen, eure Artikel ebenso hervorzuheben wie unsere (wir sind der Ansicht, dass Posts gelesen werden sollen und lassen deshalb grundsätzlich ein paar Tage vergehen, bevor wir eine neue Besprechung reinstellen), eine nicht mit den „Top-Blogs“ zu vergleichende, aber treue und interessierte Leserschaft. – Was wir erwarten: ein gewisses Niveau, weil diese Leserschaft Billigst-Abfertigungen nicht goutiert (wer schon mal Teil oder Leiter eines Blogs war, weiss, was wir damit meinen, ansonsten könnte man sich mit einer Schreibprobe beweisen). – Gestalterisch wäre einem Gastautor jede Freiheit gewährt, inhaltlich hingegen von gewissen Überschreitungen (Rassismus, Pornographie) abzusehen.
Wer sich angesprochen fühlt, möge sich bei Manfred Polak oder mir (oder auch bei beiden gleichzeitig) melden. Wir würden uns freuen, einen Gastautor oder auch deren zwei bei uns begrüssen zu dürfen, wobei man sich über die Frequenz der Beiträge einigen könnte. Unsere Leser haben ein wenig Abwechslung verdient – und wir müssen uns gelegentlich einfach ein paar faule Abende gönnen.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Warum der Film mit der toten Titelfigur funktioniert

Für die schlaflosen Nächte, die mir diese Spoiler nach Möglichkeit umgehende Besprechung bereitete, ist ein sympathischer junger Film-Freak und Musik-Spezialist zuständig, der als "travel" mit mir über den Score von "Rebecca" korrespondierte. Er hielt ihn für alles andere als gelungen, was mich zum Nachdenken und zum ihm widersprechenden Schreiben anregte. Wer mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, möge sich an "travel" wenden; denn ohne ihn, dem ich meine Auseinandersetzung mit Hitchcock's Hollywood-Erstling hiermit widme, fände man an dieser Stelle die Besprechung eines grandiosen Schlachten-Epos aus dem Fürstentum Liechtenstein.

Rebecca
(Rebecca,  USA 1940)

Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: Laurence Olivier, Joan Fontaine, George Sanders, Judith Anderson, Nigel Bruce, Reginald Denny, C. Aubrey Smith, Gladys Cooper, Florence Bates, Leo G. Carroll u.a.


Alfred Hitchcock drehte zwei Filme, deren Titel auf eine Frauenfigur verweisen. Einer dieser Filme, "Marnie" (1964), sollte dem mittlerweile zum Meister herangereiften Regisseur eigentlich vollumfänglich gelungen sein. Und doch müssen Verehrer wie ich ihn immer wieder vor Angriffen in Schutz nehmen. Von "Rebecca" wiederum könnte man aus verschiedenen Gründen annehmen, er sei - obwohl er mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde - gar nicht in der Lage, zu funktionieren. Trotzdem bestätigt jede Sichtung, dass ihm mit Recht der Ruf anhaftet, ein kleiner Klassiker mit verzeihlichen Schwächen zu sein. Man sagt zwar, er stehe irgendwo zwischen der "britischen" und der "amerikanischen" Phase des Meisters; seiner Bedeutung tut dies keinen Abbruch. - Diese Besprechung möchte sich mit der Frage beschäftigen, warum "Rebecca", das Werk mit der toten Titelfigur, eigentlich nicht funktionieren kann - und warum es dies dennoch tut.


Hollywood-Mogul David O. Selznick verführte den mittlerweile erfolgreichen Briten 1938 bekanntlich  zur Unterschrift eines seiner berüchtigten Sieben-Jahres-Verträge und stellte ihm die Regie eines "Titanic"-Films  in Aussicht.  Da Hitch an einem solchen Streifen überhaupt nicht interessiert war, schlug er dem Produzenten die Verfilmung des erfolgreichen Romans "Rebecca" von Daphne du Maurier als erstes gemeinsames Projekt vor. Die Reaktion auf sein Drehbuch, das in britischer Manier dem Film zuliebe von der Romanvorlage abwich und deren altmodischen "Gothic"-Touch mit Humor zu kontern versuchte, liess ihn aber erkennen, wie wenig ein Regisseur in Hollywood und speziell unter Selznick zu sagen hatte. Selznick, Verfechter möglichst dem Werk getreuer Verfilmungen mit vielen Zitaten aus dem Roman, liess den Neuen in einem seiner Memos wissen: "We bought 'Rebecca', and we intend to make 'Rebecca'." - Dieses Memo mit seiner mehr als deutlichen Botschaft stellte Hitchcock vor ein grosses Problem. Denn Selznick verlangte nicht nur die Verfilmung einer hoffnungslos altmodischen Geschichte, sondern die eines Romans, der sich gar keinem eindeutigen Genre zuordnen lässt. "Rebecca" schwankt unverkennbar zwischen Romanze, "Gothic"-Melodrama und Kriminalgeschichte. Er ist, und das fällt jedem Leser unangenehm auf, eine seltsame Mischung, die vor allem auf weibliche Leser abzielt und nicht so recht funktionieren will. Ein Stoff, der dem Thriller-Spezialisten in "Reinform" sicher nicht zusagen konnte. - Hinzu kam, dass Selznick im Grunde genommen einen britischen Film forderte, jedoch einen, der in den Staaten gedreht werden sollte. All dies beschäftigte den Regisseur, der später gegenüber Truffaut behaupten sollte, "Rebecca" sei gar kein Hitchcock-Film, mehr als das Getue um die Besetzung, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Projekt lenken sollte wie kurz zuvor bei "Gone With the Wind" (1939).

Obwohl sich Selznick mehr als erwünscht in die Dreharbeiten einmischte, hatte Hitchcock Glück: Der Produzent war noch so sehr mit der Post-Production des Mega-Hits um die schöne Scarlett  beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie sein "Knecht" heimlich alles unternahm, um  möglichst viel vom drohenden Durcheinander einer "werkgetreuen" Verfilmung abzuwenden. Und da er sich an seine aus England importierte Arbeitsweise hielt, nur das zu drehen, was für den fertigen Film benötigt wurde, blieb dem Produzenten, der es liebte, seine Filme im Schneideraum selber zusammenzusetzen, letztlich nur das Toben und die Flucht in eine Depression. - Hitch hatte (vom geforderten Ende abgesehen) weniger auffallende Veränderungen an der Vorlage vorgenommen; er hatte ihr jedoch mit allen erdenklichen filmischen Mitteln so etwas wie Einheitlichkeit zu verleihen versucht, den zitierten (!) Worten des Romans durch die Kraft der Bilder  gelegentlich sogar subtil widersprochen. - Das Resultat entsprach zwar nicht seinem gewohnten Desinteresse an Werktreue, wenn es um Adaptionen ging; es sollte aber eine gute Vorbereitung für spätere Psychothriller werden.

„Rebecca“ beginnt mit einem Traum der namenlosen Hauptfigur, der vom düsteren Anwesen Manderley handelt, das sie einst zusammen mit ihrem Mann bewohnte. Die eindringlichen, wortgetreu vom Roman übernommenen Bilder („It seemed to me I stood by the iron gate, … and for a while I could not enter for the way was barred to me. Then, like all dreamers, I was possessed of a sudden with supernatural powers…“) müssen zwangsläufig in eine zum Traum gehörende Geschichte münden, in der sich der Zuschauer mit der Erzählerin identifizieren kann. Könnte er dies nicht, würde sie im Gegensatz zum Roman leicht als übermässig tollpatschiges, höchstens Gelächter auslösendes Wesen wirken. - Da diese Geschichte aber auch Bestandteil des Traums ist (man beachte den Übergang vom eigentlichen Traum zu den Schuhen des Fremden, der an der Klippe steht und sich scheinbar das Leben nehmen will!), gilt für sie das, was für alle Träume gilt: Es gibt nichts Eindeutiges, Gesehenes und Wirkliches stimmen nicht unbedingt überein, können sich sogar widersprechen. Auch darauf weisen die ersten Traumbilder bereits raffiniert hin: Die beinahe singende Frauenstimme aus dem Off erzählt von der „perfect symmetry of those walls“, deren sie ansichtig wurde. Was ihr Traum jedoch zeigt, ist die hinter Ästen verborgene dunkle Ruine eines wirren, unheimlichen Gebäudes, wie es mit seinen verschiedenen Flügeln höchstens jenem Baustil entsprungen sein konnte, der im Zeitalter der Romantik als „Gothic“ beliebt war. Von Symmetrie keine Spur. Der Zuschauer ist vorbereitet: Er muss sich mit der Hauptfigur identifizieren, aber auch alles mit ihren – unzuverlässigen - Augen  wahrnehmen:

Eine schüchterne junge Frau arbeitet als Gesellschafterin für eine unsympathische amerikanische Matrone. Während eines gemeinsamen Aufenthalts in Monte Carlo lernt sie den Engländer Maxim de Winter kennen, dessen erste Frau Rebecca ein Jahr zuvor unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Obwohl Maxim ihren Tod offenbar noch nicht überwunden hat, freundet er sich rasch mit dem unscheinbaren Wesen, das er schroff mit „you little fool“ anredet, an. Die beiden heiraten und begeben sich nach Cornwall, wo die „zweite Mrs. de Winter“ zusammen mit ihrem Mann in dessen düsteren Anwesen Manderley leben soll. Dieses Anwesen ist, wie sie rasch erkennen muss, noch völlig durchdrungen vom Geist der Verstorbenen, deren Schönheit eine Macht auf alle, die sie kannten, ausübte. Insbesondere Mrs. Danvers, die Haushälterin, begegnet dem zunehmend unsicheren Wesen mit unverhohlenem Hass. Sie scheint derart von der Toten besessen zu sein, dass sie deren Nachfolgerin auf jede erdenkliche Weise vertreiben will ("She's too strong for you. You can't fight her."). Was aber denkt Maxim, der seine zweite Frau vorgewarnt hat ("I'm very difficult to live with") und nun zu allem zu schweigt? 


Was als romantische Liebesgeschichte begann, wandelt sich in Manderley zum "Gothic"-Melodrama, das die Stimmung des einleitenden Traums aufnimmt. Und in diesem Teil des Films tobt sich Hitchcock aus, findet erfolgreich Mittel und Wege, um aus dem banalen Roman ein Leinwandereignis zu machen, das zwar nicht mit einer Thriller-Handlung glänzt, aber eine Atmosphäre zu erzeugen vermag, die den Worten der Vorlage weit überlegen ist. - Die Geschichte der namenlosen Frau ist, wie der Regisseur gegenüber Truffaut erwähnte, eine Aschenputtel-Geschichte, und als Aschenputtel lässt er Joan Fontaine auch auftreten: Die Räume des Anwesens sind viel zu gross für sie, deren Alltagskleidung (die Jacke, die sie trägt, wurde sehr beliebt und ging als "Rebecca"-Jacke in die Geschichte ein) einer Schlossherrin gar nicht angemessen ist. Sie versucht sich in den riesigen Sesseln noch kleiner zu machen als sie in Wirklichkeit ist (als möchte sie in ihnen verschwinden). Und während sie sich in diesem Labyrinth von einem Anwesen verliert, triumphiert die Tote an jeder Ecke, hinter jeder Türe, die aufgeht, erstrahlt das Licht Rebecca's  ("The most beautiful room in the house. It was Mrs. de Winter's room."). - Im Büro der Verstorbenen, das jetzt zum Büro der Namenlosen wird, zeugt jedes geschwungene "R" (Selznick tat sich schwer mit der Auswahl aus verschiedenen Vorschlägen) auf Briefpapier und Notizblöcken von ihrer bleibenden Anwesenheit und Macht. Diese schüchtert die junge Frau dermassen ein, dass sie prompt eine kleine Statue umstösst und die Scherben in einer Schublade versteckt - Und während Aschenputtel, sich vergeblich an ihren Mann klammernd, von diesem Toten-Schrein immer mehr vereinnahmt wird, nicht einmal die Aufmunterungsversuche von Maxim’s Schwester wahrnimmt, scheint Mrs. Danvers (eine der unheimlichsten Frauengestalten, die ich kenne) sich nicht schreitend zu nähern, sondern zu schweben. Plötzlich steht sie hinter ihr und bringt den Geist der Verstorbenen, die sich der Zuschauer selber ausmalen muss, weil man kein Bild von ihr sieht, mit sich.

Das von Rebecca beherrschte Manderely, vom Zuschauer zum grossen Teil mit den Augen der zweiten Mrs. de Winter wahrgenommen (man beachte die langen Tische, die sie zunehmend von Maxim trennen), ist ein derart von Geheimnissen durchdrungener Ort, dass ihm der intensive Einsatz von Licht und Schatten angemessen ist. Ein virtuoses Spiel mit den Schwarzweiss-Bildern erweckt den Eindruck, die Tote sei überall, könne jederzeit Gestalt annehmen. Als sich die Namenlose in Rebecca’s Zimmer wagt, entdeckt sie – zusammenfahrend - hinter Seidenvorhängen eine dunkle Gestalt. Es ist jedoch nicht Rebecca, sondern Mrs. Danvers, die ihrer früheren Herrin noch immer ergeben ist und der Unerwünschten deren auserlesene Kleidung zeigt (sie streichelt ihre Wange an einem der Pelzmäntel), ihr sogar vorführt, wie sie ihr einst die Haare bürsten durfte. Man erkennt in dieser Szene gern Andeutungen einer einstigen lesbischen Beziehung, die sich  nun ins Nekrophile gewendet hat. Vor allem aber ist es der Wahnsinn, der vom Gesicht und den Worten der Haushälterin Besitz ergreift: „Do you think the dead come back and watch the living?“ – Die Szene endet mit dem vieldeutigen übermässigen Weiss der Gischt, die gegen die Klippen unter Rebecca’s Fenster schlägt, aus dem die Hauptfigur hier noch einen unschuldigen Blick warf, an dem sie aber später aufgefordert wird, in den Tod zu springen, damit sie Rebecca nicht länger ihren Platz an der Seite von Maxim de Winter wegnähme.
Besonders intensiv setzt Hitchcock Licht und Schatten in einer Szene ein, in der sich das junge Ehepaar Filme aus den unbeschwerten Flitterwochen anschaut. Die Haushälterin betritt den Raum und berichtet von der verschwundenen Statue im Büro. Als Maxim’s Frau ihrem Mann anschliessend von dem Missgeschick erzählt, fordert er sie auf, auch Mrs. Danvers aufzuklären. Und plötzlich verändert der Projektor, der Licht und Schatten auf die Gesichter der beiden wirft, ihre Ausdrücke ungemein, möglicherweise trügerisch: Während „Aschenputtel“ den letzten Rest ihrer Hoffnung verliert, wirft ihr Maxim einen Blick entgegen, der so furchterregend ist, dass er einen Mann zeigt, dem alles, auch das Grausamste zuzumuten ist. Und im Hintergrund tobt noch immer das unbeschwerte junge Glück in seinen Flitterwochen herum… 

Die Notwendigkeit, sich auf das Atmosphärische konzentrieren zu müssen, war für Hitchcock eine hervorragende Vorbereitung für seine späteren Psycho-Thriller, die von „Rebecca“ mehr profitieren sollten, als er je zugegeben hätte. Hinzu kam, dass er in Franz Waxman einen Komponisten fand, mit dem er sich von Anfang an hervorragend verstand. Selznick hatte Waxman ursprünglich als „Sicherheits“-Komponisten für sein Grossprojekt „Gone With the Wind“ engagiert; jetzt sollte er den Score zu „Rebecca“ schreiben. Und auch Waxman schaffte es, den Produzenten in den Wahnsinn zu treiben: Er begann, was damals unüblich war, erst zu komponieren, als ihm der fertige Schnitt vorlag. Seine Musik mag zwar heute etwas altmodisch erscheinen, das taktgenaue Komponieren kam aber dem musikalischen Regisseur sehr entgegen und half ihm zusätzlich, den Roman zu einem spannenden Psychothriller zu verarbeiten. – Waxman, der später seine Musik zu „Rebecca“ als seine gelungenste Arbeit betrachtete, leistete in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Der Einsatz verschiedenster Stilmittel, die es ihm ermöglichten, jeder Figur ein Leitmotiv zuzuordnen (die tote Rebecca bekam ein regelrechtes „Gespensterorchester“, das aus einer elektrischen Orgel und einem Novachord bestand), entfaltete eine ähnlich eindringliche Wirkung wie das durchgehende erzählende Begleiten, das bis zum „Mickey-Mousing“ ging (die Musik trippelt mit dem frisch verheirateten Paar die Treppe vom Standesamt herunter). Und wenn sich das Orchester zusammen mit der Hauptfigur zögernd dem Bootshaus, in dem noch Licht brennt, nähert, entsteht eine nicht zu überbietende Gänsehaut-Stimmung.
Was Waxman’s Musik für den Film bedeutet, zeigt sich an dessen letztem, enttäuschenden Viertel. Das „Gothic“-Melodrama verwandelt sich, worauf bereits hingewiesen wurde, gegen Ende in eine Kriminalgeschichte, an deren Verlauf nicht zuletzt Rebecca’s Cousin und ehemaliger Liebhaber (hervorragend verkörpert von einem jungen George Sanders) beteiligt ist. Diese Kriminalgeschichte ist derart dialoglastig, dass die Musik kaum zur Geltung kommt. Dementsprechend wirkt der letzte Teil von Hitchcock’s Hollywood-Einstand mit seiner Polizei-Befragung im Vergleich zum Rest nicht nur dilettantisch gemacht, sondern derart einschläfernd, dass selbst Kenner (inklusive Truffaut!) einzelne Aspekte nicht mitbekommen, weil sie an einem simplen "Whodunit" nach dieser überwältigenden Atmosphäre gar nicht interessiert sind. Man würde gern erfahren, was der Regisseur aus diesem abschliessenden Teil des Romans (Daphne du Maurier hielt ihn wohl für notwendig, weil über den "Gothic Hero" Maxim Klarheit herrschen musste) gemacht hätte, wäre er nicht zu einer „werkgetreuen“ Verfilmung verpflichtet gewesen.

„Rebecca“ ist ein Film mit Schwächen, und man mag Selznick die Schuld für diese Schwächen in die Schuhe schieben. Dennoch gilt er zu Recht als Klassiker, der zugleich ein echter Hitchcock war, weil er dem Regisseur viel für spätere Arbeiten mit auf den Weg gab. Die namenlose Hauptfigur, die sich anfangs zögerlich, später entschlossen ihrem Mann an den Hals wirft (Hitch behauptete, die Aktivität der Frau wirke so echt, weil Laurence Olivier Joan Fontaine nicht als Partnerin gewollt habe), sollte ihn in mancherlei Hinsicht auf Frauenfiguren vorbereiten, die in seinen Meisterwerken (Ingrid Bergman in „Notorious“, 1946, ‚Tippi‘ Hedren in „Marnie“) auch zu Identifikationsfiguren wurden, dem Zuschauer als "Augen" dienten. – Wer an „Rebecca“ zurückdenkt, erinnert sich vor allem an das verängstigte Geschöpf in einem düsteren Anwesen, das scheinbar von einer Toten beherrscht wird. Dass man die Schwächen des Films, insbesondere dessen letzten Teil auszublenden vermag, zeigt, wie gut wenigstens die erste Zusammenarbeit mit dem gelegentlich hintergangenen Selznick funktionierte. Der vom "Master of Suspense" als Frauenfilm deklarierte Hollywood-Einstand erwies sich als Lehre, wie sie besser nicht hätte sein können. Hätten seine Meisterwerke ohne den Zwang, sich wenigstens ein einziges Mal intensiv auf eine Vorlage einlassen zu müssen, ihre atmosphärische Klasse je erreicht? --- Man darf in diesem Zusammenhang abschliessend darauf hinweisen, dass die Werke der einst gern gelesenen Daphne du Maurier grundsätzlich erst zu erblühen begannen, wenn ein guter Regisseur sie verfilmte.

Freitag, 27. April 2012

Bilderflut aus den Karpaten

FEUERPFERDE (DDR-Titel SCHATTEN VERGESSENER AHNEN, original (ukrainisch) TINI ZABUTYCH PREDKIW, russisch TENI ZABYTYCH PREDKOW)
UdSSR (Ukraine) 1964
Regie: Sergej Paradschanow
Darsteller: Iwan Mikolaitschuk (Iwan), Larissa Kadotschnikowa (Maritschka), Tatjana Bestajewa (Palagna), Spartak Bagaschwili (Jurko), Nina Alisowa (Iwans Mutter)


FEUERPFERDE, der erste Film, in dem sich Sergej Paradschanow künstlerisch voll verwirklichen konnte, ist von fast unfassbarer Schönheit. Paradschanow findet erlesene Bildmotive ohne Ende, die meist in leuchtenden Farben präsentiert werden. In Verbindung mit der ungemein beweglichen Kamera ergibt sich ein visueller Rausch, der unablässig auf den Zuschauer einwirkt. Man kommt manchmal nicht mehr dazu, die Untertitel zu lesen, weil man ständig von den Bildern überwältigt wird.


Die Handlung ist - zum Glück, könnte man fast sagen - nicht besonders kompliziert. Sie spielt bei den Huzulen, einem Volk von halbnomadischen Schafzüchtern in den nördlichen Karpaten, und ist in einer unbestimmten vormodernen Vergangenheit (die bei den abgeschieden lebenden Huzulen bis ins späte 19. Jh. andauerte) angesiedelt, in der noch Mythen, Legenden und Aberglaube ins Alltagsleben hineinwirkten. Neben den Bildern trägt auch der Soundtrack, der sich teilweise aus huzulischer Volksmusik speist, zur Schönheit des Films bei. So gibt es archaisch-dissonant wirkende Klänge der Trembita, eines entfernt mit dem Alphorn verwandten Blasinstruments, und fremdartig-schönen Frauengesang, der an "Le Mystère des Voix Bulgares" erinnert.


Es handelt sich um eine Verfilmung der Erzählung "Schatten vergessener Ahnen" (1912) des ukrainischen Schriftstellers Michailo Kozjubinskij (1864-1913), der sich dabei seinerseits bei huzulischen Märchen und Legenden bedient hatte. Der erste Teil des Films ist eine Art "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Am Anfang sind die späteren Liebenden, Maritschka und Iwan (von ihr "Iwanko" genannt), noch Kinder. Maritschkas Vater erschlägt Iwans Vater im Streit, nachdem dieser ihn ausgerechnet beim Gottesdienst in der Kirche provoziert hatte. Trotz der Bluttat befreunden sich die Kinder. Die Jahre vergehen, und aus den Freunden wird ein Liebespaar. Aber Iwans Mutter hat für die Tochter der verfeindeten Familie nur Hass übrig. Iwan, der als einziger von vielen Geschwistern noch lebt, muss für seine verwitwete Mutter sorgen und hat nicht genug Geld, um Maritschka heiraten zu können. Um doch noch genug zu verdienen, um einen eigenen Hausstand gründen und die Geliebte heiraten zu können, verdingt sich Iwan als Schäfer auf einer weit entfernten Weide. Doch die große Liebe endet tragisch. Während seiner Abwesenheit stürzt Maritschka beim Versuch, ein entlaufenes Lamm aus einer Felswand zu retten, in einen reißenden Wildbach und ertrinkt. Iwan ist am Boden zerstört und versinkt in Apathie.


Die zweite Hälfte des Films verfolgt Iwans weiteren Weg. Nach Jahren der Verwahrlosung und des ziellosen Umherschweifens (der Film ist hier für einige Minuten schwarzweiß, um seine Verfassung widerzuspiegeln) findet er langsam ins Leben zurück. Er heiratet die wohlhabende und gut aussehende Palagna, doch die Ehe steht unter keinem guten Stern. Sie bleibt kinderlos, und Iwan kann Maritschka nicht vergessen, was schließlich auch Palagna nicht verborgen bleibt. Um ihn trotzdem an sich zu binden, will sie mit Hilfe von Magie für Nachwuchs sorgen, doch das geht nach hinten los. Palagna verfällt dem mächtigen Zauberer Jurko, der sogar Stürme bändigen kann, und wird seine Geliebte. Schließlich planen die beiden sogar, Iwan mit Hilfe schwarzer Magie loszuwerden. In einer Dorfschänke kommt es zu einem Kampf der Rivalen, und Jurko verletzt Iwan mit einem Beilhieb am Kopf. Halb besinnungslos torkelt Iwan in einen Wald, wo ihm Maritschka erscheint. Ein Geist, oder nur eine Halluzination? Paradschanow lässt die Unterschiede verschwimmen. Als ihn Maritschkas Erscheinung schließlich berührt, stirbt Iwan. Den Schluss des Films bildet Iwans Totenfeier, die nahtlos in ein bacchantisches Fest übergeht, das von staunenden Kindern durch ein Fenster beobachtet wird.


Es ist tragisch, dass es in Paradschanows Biographie eine Lücke von 15 Jahren gibt, in denen er keinen Film drehen durfte. Sergej Paradschanow wurde als Kind armenischer Eltern (sein Geburtsname war Sarkis Paradschanian) in Tiflis geboren, wo er aufwuchs und zunächst studierte. Dann ging er nach Moskau an die staatliche Filmhochschule, wo Alexander Dowschenko, der Altmeister des ukrainischen Films, zu seinen Lehrern zählte. Nach seinem Abschluss 1951 ging Paradschanow auf Dowschenkos Anraten zu den nach ihm benannten Filmstudios in Kiew. Dort drehte Paradschanow eine Reihe von Dokumentar-, Kurz- und Spielfilmen, die er später alle als wertlos bezeichnete. Die stalinistische Doktrin des Sozialistischen Realismus wurde seit der Tauwetterperiode (nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956) nicht mehr durchgesetzt, schwebte als Ideal aber immer noch über dem sowjetischen Film, und Paradschanow konnte oder wollte sich nicht komplett davon lösen. Umso radikaler tat er es dann mit FEUERPFERDE. Dass ein völlig anderer sowjetischer Film möglich war, hatte ihm vor allem Andrej Tarkowskijs erster Spielfilm IWANS KINDHEIT gezeigt. Paradschanow und Tarkowskij wurden bald enge Freunde und blieben es bis zu Tarkowskijs Tod 1986.


Auch FEUERPFERDE wurde von den Kiewer Dowschenko-Studios produziert. Dass das überhaupt möglich war, lag vor allem am ukrainischen Parteichef Petro Schelest, der ein starker Förderer der kulturellen und in gewissem Ausmaß auch der politischen Autonomie der Ukraine war, und der selbst ukrainischen Dissidenten erstaunlichen Spielraum gewährte. Es ist auch nicht richtig, dass Paradschanow wegen FEUERPFERDE unmittelbar in Schwierigkeiten kam, wie manchmal behauptet wird. Ein Teil der kommunistischen Kulturbürokratie war sicher irritiert, aber ein erstaunlich großer Teil der sowjetischen Kritiker feierte den Film, und selbst ein staatliches Gremium wie der ukrainische Zweig von Goskino belobigte FEUERPFERDE und sorgte dafür, dass er auch außerhalb der Ukraine nicht russisch übersprochen, sondern in der ukrainischen Originalfassung in die Kinos kam, was durchaus als Privileg zu verstehen war. Ein Privileg war es auch, dass FEUERPFERDE im westlichen Ausland auf Festivals gezeigt wurde, wo er über ein Dutzend Preise gewann (jedoch keinen BAFTA Award, wie in der IMDb und der deutschen Wikipedia fälschlich behauptet wird).


Bald begannen dann jedoch Paradschanows Probleme. Nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 stieg zwar Schelest in der Parteihierarchie weiter auf, aber insgesamt wurde das innen- und kulturpolitische Klima der UdSSR rauer. Paradschanow sprach seine Ablehnung des Sowjetsystems offen aus, unterzeichnete Petitionen für inhaftierte Dissidenten etc. und bekam die Folgen zu spüren. Er wurde wegen "ukrainischem Nationalismus" verhaftet (was bei einem armenisch-georgischen Regisseur durchaus bemerkenswert war), aber bald wieder freigelassen. 1966 übersiedelte er von Kiew nach Jerewan in Armenien. Nach FEUERPFERDE wurden sowohl in der Ukraine wie in Armenien vier Jahre lang alle seine eingereichten Drehbücher abgelehnt, abgesehen von einem kurzen Dokumentarfilm 1967. Dann durfte er 1968 in Armenien wieder einen Spielfilm drehen, der um Sayat Nova, einen armenischen Dichter, Troubadour und Mönch des 18. Jahrhunderts, kreist, und der sich einer stringenten Handlung verweigert und stattdessen Tableaus von atemberaubender Schönheit präsentiert. Doch der vorgesehene Titel SAYAT NOVA musste in ZWET GRANATA (DIE FARBE DES GRANATAPFELS) geändert werden, und unmittelbar nach der Fertigstellung wurde der Film verboten. 1971 wurde dann eine von Sergej Jutkewitsch entschärfte und verstümmelte Fassung des Films in die sowjetischen Kinos gebracht. 1980 wurde eine weiter korrumpierte Kopie der Jutkewitsch-Fassung in den Westen geschmuggelt und sorgte dort trotz ihrer Mängel für Aufsehen.


Nach DIE FARBE DES GRANATAPFELS wurden wiederum alle Drehbuchentwürfe abgelehnt, und Ende 1973 wurde Paradschanow verhaftet und angeklagt. Die Anklage war ein wildes Gebräu, das Homosexualität, eine angebliche Vergewaltigung, Verbreitung von Pornographie, illegalen Handel mit Ikonen und weiteres umfasste. Richtig daran war nur, das Paradschanow bisexuell war, die anderen Punkte waren an den Haaren herbeigezogen oder frei erfunden. Paradschanow wurde zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt und in verschiedenen Straflagern in Sibirien untergebracht, meist unter Schwerkriminellen und in unwürdigen Bedingungen. Seine Freunde Tarkowskij und Michail Wartanow protestierten öffentlich, und es gab auch internationale Proteste, vor allem von französischen und italienischen Künstlern und Intellektuellen. Aber erst nach vier Jahren wurde Paradschanow freigelassen. Angeblich gab ein persönliches Treffen von Louis Aragon und dessen russischer Frau mit Leonid Breschnew den Ausschlag.


Paradschanow lebte jetzt in Tiflis und durfte weiter keine Filme drehen. 1982 wurde er erneut verhaftet und angeklagt, nach einem Dreivierteljahr im Gefängnis aber freigesprochen. Und 1984, kurz vor Beginn der Ära Gorbatschow, erhielt er endlich wieder eine Drehgenehmigung. Mit dem in Georgien gedrehten DIE LEGENDE DER FESTUNG SURAM (1985) und dem in Aserbaidschan entstandenen KERIB, DER SPIELMANN (1988) griff Paradschanow seinen Stil der 60er Jahre wieder auf (der bei beiden Filmen als Co-Regisseur genannte Schauspieler Dodo Abaschidse ist nur aus formalen Gründen aufgeführt, in Wirklichkeit hat Paradschanow allein inszeniert) und erneuerte auch seinen bereits in den 60er Jahren errungenen internationalen Ruf. Beide Filme gewannen diverse Preise, und Paradschanow reiste auch in den Westen, so 1988 zum Münchner Filmfest, wo er Ehrengast war und eine Retrospektive seiner Filme gezeigt wurde. Ein weiterer begonnener Film, der autobiographische Elemente enthalten sollte, blieb durch Paradschanows Tod unvollendet. Er starb 1990 in Tiflis an Krebs, und er hinterließ große Fußstapfen, die kaum jemand ausfüllen konnte. "Wer versucht, mich zu kopieren, ist verloren", soll er einmal gesagt haben.


FEUERPFERDE ist in Russland bei RUSCICO und in England bei Artificial Eye (engl. SHADOWS OF FORGOTTEN ANCESTORS) auf DVD erschienen. Eine deutsche Lizenzausgabe der RUSCICO-Scheibe scheint derzeit nicht mehr erhältlich zu sein. - Selten habe ich mich mit dem Aussortieren der Screenshots so schwer getan wie hier, deshalb muss ich jetzt einfach noch ein paar bringen. Zum Vergrößern draufklicken.








Mittwoch, 18. April 2012

Der Greifer (1958)

Der Greifer
(Der Greifer, Deutschland 1958)

Regie: Eugen York

Der deutsche Film der 50er Jahre lässt sich bekanntlich nicht auf Heimatschnulzen und Schlagerstreifen reduzieren. Auch die deutschen Produzenten setzten auf den Krimi als Kassengaranten, der möglicherweise internationale Anerkennung finden würde. Dabei verfilmte man gelegentlich durchaus Stoffe, die mehr oder weniger auf dem eigenen Mist gewachsen waren ("Nachts, wenn der Teufel kam", 1957, oder  Dürrenmatts "Es geschah am hellichten Tag", 1958), sah jedoch nicht ein, dass man mit ihnen am besten fuhr. Man ahmte lieber zusätzlich den Film noir oder amerikanische Krimis mit pseudo-dokumentarischem Charakter nach (die Titel vergessener Streifen wie "Der Schatten des Herrn Monitor", 1950,  "Wer fuhr den grauen Ford?", 1950, und "Die Spur führt nach Berlin", 1952, vermögen vage an das Unterfangen zu erinnern) - entdeckte aber auch rasch Georges Simenons Kommissar Maigret, dessen ruppiger, mit unerschütterlicher Ruhe und Einfühlungsvermögen verbundener Charakter sich, wie auch die Schweiz 1955 mit ihrem "Polizischt Wäckerli" bemerkt hatte, so gut der jeweiligen Nationalität und dem bevorzugten Schauspieler anpassen liess.


Dieser Entdeckung dürfte "Der Greifer", Hans Albers' viertletzter Film, entsprungen sein. Denn auch hier waltet ein unnachgiebiger, jedoch einfühlsamer Kriminalist an der Schwelle zur Pensionierung seines Amtes. Und während Polizischt Wäckerli nur Diebe fangen muss, sich wegen privater Sorgen mit Sohnemann und Tochter aber trotzdem schlecht gelaunt an den perfekt gedeckten Schweizer Tisch setzt (man vergleiche die realistische "Ordnung" in der Küche des französischen Kommissars in Delannoys "Maigret tend un piège", 1958!), hat es 'Der Greifer' Otto Friedrich Dennert, Kriminaloberkommissar, tatsächlich mit Mord, sogar mit Mord an mehreren blonden Frauen,  zu tun, findet aber nebenbei noch die Zeit, der Frau eines arbeitslosen Diebs so intensiv die Wange zu tätscheln, dass böse Zungen von sexueller Nötigung reden könnten. - Und man bemerkt rasch: Regisseur Eugen York, der den alternden "blonden Hans" noch zu weiteren filmischen Verbrechen antrieb ("Das Herz von St. Pauli", 1957, "Der Mann im Strom", 1958), wollte trotz des vielversprechenden Thriller-Anfangs (eine männliche Schattenfigur bewegt sich zu aufpeitschender Musik durch die nächtliche Strasse), ein Filmchen drehen, das für einen Krimi an Biederkeit kaum zu überbieten sein sollte:


Kommissar Dennert weiss, dass seine Pensionierung immer näher rückt,  wartet doch Dr. Schreiber (herrlich schleimig verkörpert von Siegfrid Lowitz) hemmungslos-gierig darauf, sein - überaus korrekter - Nachfolger zu werden. Vorher will der alte Mann aber mit seiner stets erfolgreichen Intuition den Frauenmörder finden, der den ganzen Ruhrpott in Angst und Schrecken versetzt. Und dann kommt noch ein Generationenkonflikt hinzu: Während Dennert in der Spelunke "Zur Mücke" zusammen mit ehemaligen Ganoven, die er alle "von Mensch zu Mensch" kennt, feiert und das aus "Grosse Freiheit Nr.7" (1944) bekannte Lied "Beim ersten Mal, da tut's noch weh" trällert, verliebt sich sein Sohn Harry, ebenfalls bei der Kriminalpolizei tätig, während seiner Nachtwache in Essens Sündenbabel prompt in die Verlobte eines Posträubers. Das veranlasst Papi Albers nicht nur dazu, dem Nachwuchs die Ente, die dieser trotz Kochrezept auszunehmen vergass, unter die Nase zu reiben; er stürzt sogar die junge Liebe ins Unglück und beschwört beinahe ein weiteres Verbrechen herauf. Bei so viel Trostlosigkeit bleibt ihm nur noch ein tiefsinniges Gespräch mit seinem Kanarienvogel: "Hansilein, vielleicht hab' ich wirklich 'n Vogel. Sag mal 'Piep'!"

Gegen Ende gewinnt das sich bislang vor allem in Büros und in Kneipen abspielende Filmchen noch etwas an Spannung, und der Mörder wird nach einer gnadenlosen Geiselnahme dank Papis und Sohns gemeinsamem moralischen Vorgehen geschnappt. Ich verrate - obwohl der Zuschauer es nach fünfzehn Minuten weiss - nicht, wer es ist. Bloss dies: Agnes Windeck, die gewohnt altmodisch-elegant auftritt, darf als unschuldig betrachtet werden. Und wir erfahren endlich, von wem Klaus Kinski alle seine mimischen Fähigkeiten abkupferte (von Horst Frank, natürlich). - Auch das Motiv für all die grässlichen Morde wird geliefert: "Eine Frau ist daran schuld." Das ist nicht weiter erstaunlich: Der aus Russland stammende Eugen York scheint es allgemein nicht so mit den Frauen gehabt zu haben. Sogar sein letzter Spielfilm (1982) trug den Titel "Schuld sind nur die Frauen".


Man muss um der Gerechtigkeit willen betonen: Abgesehen von Hansjörg Felmy als fadem Harry belebt eine gut agierende Truppe den biederen Streifen, von dem behauptet wird, er sei die letzte sehenswerte Arbeit von Hans Albers gewesen und der trotz sich hartnäckig haltender Behauptungen keine späte Fortsetzung seines 1930er Streifens mit dem gleichen Titel ist. Auch der Altstar bringt sich und seine Schauspielkunst noch einmal voll ein, trotz aller Versuche, ihn auf den Klischeetyp des alternden Helden festzulegen. - Ich zumindest kann mich des Eindrucks nicht erwehren, Dennert sei sogar als Vorläufer einer Figur zu betrachten, die in den 70ern jahrelang den ZDF-Freitagabend "belebte" und mich ins Bad trieb. Sein Sohn Harry wiederum dürfte sich als Assistent des Nachfolgers von Erik Ode empfohlen haben. Vermutlich wusste er nur nicht, wo Derrick den Autoschlüssel aufzubewahren pflegte...

Dienstag, 10. April 2012

Isländisch für Anfänger


Engel des Universums
(Englar alheimsins, Island/Norwegen/Dänemark/Deutschland/Schweden 2000)

Regie: Fridrik Thór Fridriksson
Darsteller: Ingvar Eggert Sigurdsson, Baltasar Kormákur, Björn Jörundur Fridbjörnsson, Hilmir Snaer Gudnason, Margrét Helga Jóhannsdóttir u.a.

Fridrik Thór Fridriksson, dessen “Children of Nature” (Börn náttúrunnar, 1991) noch für den “Auslands-Oscar” nominiert worden war, erntete in den letzten Jahren auf internationaler Ebene wesentlich weniger uneingeschränktes Lob als in seiner Heimat, wo er wohl mehr als Hrafn Gunnlaugsson den Ruf geniesst, das isländische “Wesen” mit seiner Schwermut, seiner Ironie und seinem Hang zum Mythos auf einzigartige Weise in Bilder und Geschichten umzusetzen. - Dass die Bilder von Filmen wie “Fálkar” (2002) oder “Niceland” (2004) bestechen, den mit dem isländischen Film weniger vertrauten Betrachter sogar bestechen müssen, ist unbestritten. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass Island ein für bestechende Bilder privilegierter Flecken Erde ist - und dieses Privileg kann leicht dazu verlocken, im Kern immer wiederkehrende Geschichten über Aussenseiter mit oft recht banaler Botschaft als Verpackung für grossartige Aufnahmen zu benutzen.

“Englar alheimsins”, der erste Film, den ich von Fridriksson sah (eine Kollegin kehrte vor einigen Jahren nach längerem Aufenthalt aus Island zurück und drückte mir ein paar DVDs in die Hand, die mich erstmals auf das Revival des isländischen Films aufmerksam machten), ist dem Genre des Psychiatriefilms zuzuordnen, das natürlich geradezu zu “vieldeutig-raunenden” Bildern verführt. - Páll, ein begabter Maler und Musiker mit grossen Plänen, der - für ledige Männer in Island nicht untypisch - Ende der 60er Jahre noch bei seinen Eltern lebt, wird von seiner Freundin, Tochter aus besserem Hause, sitzen gelassen. Im Geiste des sensiblen jungen Mannes, der schon immer mit seiner Kindheit verbunden war und an seltsamen Vorstellungen hing (er denkt, die NATO wälze ihre Kriege in seinem Kopf ab oder hängt einem Traum seiner Mutter nach, in dem sie vier Pferde aus dem Meer daher galoppieren und eines zusammenbrechen sah), beginnt sich der Wahnsinn auszubreiten. Agonie und Aggression wechseln sich ab. Er hält sich für van Gogh, schmiert Bilder auf grossflächige Leinwände, bearbeitet sein Schlagzeug bis zur Erschöpfung und lässt sein Bett hin-und herschwanken, als hätte ein Poltergeist von ihm Besitz ergriffen. All diese Veränderungen überfordern die Eltern von Páll, der auch (ein weiteres Zeichen, dass ihm sein Körper zuwider ist) seinen Schädel kahlgeschoren hat, und sie weisen ihn in Kleppur, eine psychiatrische Klinik, ein. Dort diagnostiziert man: Schizophrenie.


In Kleppur begegnet Páll drei weiteren Männern, die unter einem Wahn leiden, den - wie man in Gesprächen bald feststellt - die Isländer für ihre verborgene Volkskrankheit halten, weshalb sie Leute mit einem deutlich abweichenden Bild von der traurigen Wirklichkeit wegsperren: Peter hält sich für Schiller, Óli (verkörpert von Baltasar Kormákur, der mittlerweile selber zu den bedeutenden Regisseuren Islands zählt) ist ein Musiker, der von den Beatles den Auftrag zu erhalten glaubt, ihre ungeschriebenen Songs zu schreiben - und Viktor hat sich in die Rolle eines philosophierenden Nazis hineingesteigert. In Gesprächen, die Christus als möglichen Wahnsinnigen (“man würde ihn heute wegsperren”) und die Tötung Gottes durch einen Satz von Nietzsche thematisieren, findet man rasch heraus, dass die eigentlichen Wahnsinnigen draussen in der Welt leben und in Kleppur nur durch das kühle, sterile Klinikpersonal vertreten sind. Fazit: Die ganze Welt ist eine Anstalt; wir aber sind die Engel, die von Gott in diese Anstalt Welt gesandt wurden. - Welch eine (billige) Botschaft, die durch eines jener unangenehm symbolträchtigen Bilder (Páll kann in einem “Traum” auf dem Wasser gehen) unterstrichen wird!

Der in die “Freiheit” entlassene Peter kommt - was durchaus realistisch erscheint - mit seinem neuen Leben nicht zurecht und wählt den Freitod. Seine drei Freunde erhalten für die Beerdigung Freigang (ein Zeichen des Vertrauens, wie der Arzt betont) und nutzen die Gelegenheit zum Besuch eines Nobelrestaurants, in dem sie sich mit den erlesensten Speisen verwöhnen lassen. Die Szene bildet den humoristischen Höhepunkt des sonst schwer verdaulichen Streifens und mündet in eine Pointe, die sich beinahe mit Hlynurs in “101 Reykjavík” (2000) gezeigtem Versuch, sich im Schnee das Leben zu nehmen, vergleichen lässt. - Am Ende entlässt man auch Páll, und der Zuschauer weiss, wie er, der in der Anstalt zu seiner “Berufung” fand, enden wird.

Es handelt sich bei “Englar alheimsins” um die Verfilmung eines Romans des mit Fridriksson befreundeten Schriftstellers Einar Már Gudmundsson. Die beiden Künstler gelten als ausserordentlich heimatverbunden und die isländische Mythologie, die zum Teil ins Christliche übertragen wird, auskostend. Dies erklärt wohl einige der etwas arg mit “Bedeutung” beladenen und letztlich gar nicht so originellen Vorstellungen und Bilder. Denn wenn Fridriksson sich einfach seiner Geschichte und den der natürlichen Umgebung abgerungenen Bildern hingibt, wirkt sein Film durchaus stark. Man sieht etwa Óli und Páll mit flatternden Mänteln durch eine triste, vom Wind beherrschte und sonnenlose Landschaft laufen (Óli will den Präsidenten besuchen und ihm von seiner Verbindung mit den Beatles erzählen) - und man begreift, weshalb die Häuser in Island so bunt und malerisch wirken müssen: Sie bilden eine mehr als nötige Festung gegen die Natur mit ihrer dunklen Traurigkeit (die Isländer sollen nur mit viel Sex und Alkohol durch die Wintermonate kommen), deren vergeblich unterdrückten Einfluss auf den Menschen sich in der Figur eines scheinbar glücklich verheirateten Schulfreundes von Páll bemerkbar macht, der sich auch das Leben nimmt. - Und der Schluss des wahrhaft nicht für schwache Gemüter und regnerische Herbsttage gemachten Films könnte geradezu überzeugend sein, weil er zunächst nicht mit Symbolik aufwartet, sondern einfach die Wirklichkeit zeigt: Die Kamera lenkt den Blick auf auf- und zuklappernde Balkontüren, fährt auf den Balkon hinaus, man sieht einen Stuhl, von dem aus Páll, der auf dem Boden in einer Blutlache liegt, den erlösenden Sprung gewagt hat; ein Krankenauto fährt heran, die Bilder überblenden sich. Páll wird abtransportiert, am Ende bleiben nur die Blutlache und die hilflosen, sich umarmenden Eltern in der leeren Wohnung. Doch während der Beerdigung (sie wird aus der Luft aufgenommen) erzählt uns Pálls Stimme aus dem Off, er sei nicht tot, sondern ein Bestandteil des Meeres geworden. Und dann eine mythologisierende Erhebung, die ebenso unnötig wie pathetisch wirkt. - Alles in allem: “Englar alheimsins” ist ein (gut gespielter) Film, der einen höchst zwiespältigen Eindruck hinterlässt, “Anfängern” in seinen starken Momenten vielleicht einen Einblick in die naturbedingte isländische Schwermut zu vermitteln vermag - aber von manchen Kritikern des Regisseurs nicht zu Unrecht als Beginn eines Abstiegs ins Aufdringlich-Symbolische mit fader Geschichte betrachtet wird. 


Sonntag, 1. April 2012

Die ideale literarische Vorlage

Der junge Törless
(Der junge Törless, Deutschland/Frankreich, 1966)

Regie: Volker Schlöndorff
Darsteller: Mathieu Carrière, Marian Seidowsky, Bernd Tischer, Fred Dietz, Lotte Ledl, Jean Launay, Barbara Steele u.a.

Im Jahre 1902 verfasste Hugo von Hofmannsthal unter dem Titel "Ein Brief" ein Werk, das für die Erzählkunst der Moderne von grösster Bedeutung sein sollte. In diesem Brief beklagt sich ein fiktiver Lord Chandos in allerdings erlesenen Worten über die Unfähigkeit der Sprache, dem Ausdruck zu verleihen, was ihn berührt, was er erzählen möchte. Hinter dem "Brief des Lord Chandos" verbirgt sich eine persönliche Verunsicherung des Autors. Er wurde jedoch von verschiedenen Literaten der Zeit als Aufforderung betrachtet, sich vom traditionellen Erzählen des 19. Jahrhunderts (man sprach gerne vom "Fontaneisierenden Erzählen") zu lösen und eine Sprache zu suchen, die die Schilderung bisher unerzählter Realitäten ermöglichen sollte. So entstanden innerhalb eines Jahrzehnts  Werke, in deren Mittelpunkt diese Suche nach einem neuen Erzählen stand: Robert Walsers "Der Gehülfe" (1908), Rainer Maria Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910), in dem sich die Hauptfigur, ein in der Grossstadt seine Identität Verlierender, die Sprache wünscht, die das wiederzugeben vermöchte, was ihm die noch angedeuteten Räume an abgerissenen Häuserwänden mitteilen - und natürlich Robert Musils erster Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" (1906), ein Werk, das sich in die Seele eines Pubertierenden hineinversetzt, der vor der unverständlichen, ihn überfordernden Realität (man sagt oft, die Geschichte habe nur "zufällig" mit Sadismus und Homosexualität zu tun) in eine Welt des Traums flüchtet.

Kaum jemand hätte erwartet, dass eines dieser Werke später nicht nur verfilmt, sondern als Film sogar von beinahe ebenso grosser innovatorischer Kraft sein würde wie als Roman. Doch um 1960 geriet der deutsche Film in eine ähnliche Krise wie das Erzählen um die Jahrhundertwende, und der Rückgriff   auf Musils "Törless" sollte 1966 nicht nur einem begeisterten Cannes zeigen, dass "Papas Kino", lange Jahre eine Peinlichkeit für die Festspiele, tatsächlich tot war. - Volker Schlöndorff gehörte zwar nicht zu den Mitbegründern des "Neuen Deutschen Films": Während eine Reihe von Filmemachern das Oberhausener Manifest verlesend eine Auseinandersetzung des Films mit politischen und gesellschaftskritischen Themen verlangte, besuchte er die Cinémathèque française, um später als Regieassistent bei Louis Malle, Jean-Pierre Melville und Alain Resnais  zu arbeiten. Seine Robert Musil-Adaption, die etwas wirklich Neues sein wollte, sich auch bewusst von der Nouvelle Vague abhob, sorgte aber international derart für Aufsehen, dass sie heute als erstes erfolgreiches Ergebnis jener Bewegung betrachtet wird, die dem deutschen Film der 70er und 80er Jahre wieder die Bedeutung zu geben vermochte, die ihm bis in die frühen 30er hinein einst zukam.

Schlöndorff bemühte sich – wie schon der Trailer betonte – nicht um eine exakte (man sprach von „akademischer“) Literaturverfilmung. Dies war zum Teil gar nicht möglich, weil das bei Musil offen ausgesprochene homosexuelle Verlangen (Törless lässt sich von Basini, einem betont hübschen, sexuell anziehenden Schüler, während eines im Internat verbrachten Urlaubs verführen) im Deutschland der 60er noch ein heisses Eisen war und nur angetönt werden konnte. Auch das Ende erscheint wesentlich ambivalenter als im Roman, der die „Verwirrungen“ als Bestandteil eines Erwachsenwerdens deklariert. – Stattdessen setzte der junge Filmemacher auf die "Offenheit" des Werks, seine Zeitlosigkeit, die es ihm tatsächlich ermöglichte, einem in unterkühltem Hochglanz gehaltenen Schwarzweiss-Streifen über Geschehnisse in einem Internat der Jahrhundertwende eine bemerkenswerte Brisanz zu verleihen, weil er die Figuren nicht nur als einer untergehenden Kultur angehörende Zöglinge, sondern auch als Wegbereiter des Nationalsozialismus zeichnete. (Es ist, dies nur nebenbei, eigenartig, wie oft literarische Werke, zum Beispiel der dritte Teil der „Schlafwandler-Trilogie“, 1930-1932, von Hermann Broch , die den Untergang der k. und k.-Monarchie beschreiben, den Eindruck erwecken, sie bezögen sich nicht nur auf den Ersten Weltkrieg, sondern nähmen zugleich die Zeit des Nationalsozialismus vorweg. Man kann dies allerdings nicht einer Weitsichtigkeit der Autoren oder einer sich wiederholenden Geschichte zuschreiben, höchstens einer später erfolgten Interpretation, die wie Schlöndorff unliebsame Zusammenhänge betont). Dass aus der Verfilmung von Musils Roman mehr herauszulesen war als die brutalen Vorgänge in einem Kadetten-Internat, dürfte etwa dem Goethe-Institut sauer aufgestossen sein: es verschmähte „Der junge Törless“ noch zehn Jahre nach seinem Entstehen. Vergangenheitsbewältigung war etwas Neues, Unbequemes.


Die Geschichte ist bekannt: Der Bürgersohn Thomas Törless wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von seinen Eltern in ein Elite-Internat an der österreichisch-ungarischen Grenze gebracht, wo er zusammen mit anderen Schülern aus gutem Hause zu Zucht und Ordnung erzogen werden soll. Der nachdenkliche, zunehmend seiner Sinnlichkeit ausgelieferte und dadurch erst recht verunsicherte junge Mann empfindet allerdings nicht nur das Internatsleben als öde; ihm kommt auch die Umgebung mit den arbeitenden Frauen und dem Schlächter fremd und seltsam vor. Er schliesst sich den forschen Mitschülern Reiting und Beineberg an, die ihm aber auch nur eine heruntergekommene Schänke und die Dorfhure Bozena zu bieten haben, ein Weib, das Wien kennt und wegen seiner Schwangerschaft einst von dort verjagt wurde. Es sieht in den Kadetten die Ebenbilder ihrer Eltern: „Ihr seid wie eure Eltern: scheinheilig, feige und verlogen.“ - Basini, ein weiterer Mitschüler, macht sich vor allem durch seine Spendierfreude und seine Angeberei bemerkbar (er schickt sich selber einen Brief mit einem Strumpfband, das er mit den Worten „Von meiner Dulcinea!“ herumreicht). Gleichzeitig leiht sich Basini, der, wie wir später erfahren, von seiner armen Mutter unterstützt wird, bei allen Kameraden Geld aus, das er nicht zurückzahlen kann. 

Als der Angeber von Beineberg und Reiting des Diebstahls überführt wird, melden ihn die zwei Kadetten nicht der Schulleitung, sondern machen ihn zu ihrem Sklaven, für den sie sich immer neue Erniedrigungen ausdenken. Während Reiting  hemmungslos seine sadistischen Triebe auslebt und Beineberg, gern als Kenner der indischen Philosophie auftretend, sich angeblich nur an diesem Fall „schulen“ will, beobachtet Törless – mehr auf der Suche nach einem Halt in dieser seltsamen Welt, in der sich Realität und Irrealität kreuzen –  die zunehmenden Quälereien zuerst arrogant-desinteressiert wirkend, später angewidert. Da aber selbst sein Mathematiklehrer, von dem er sich Antworten auf seine die Realität betreffenden Fragen nach den imaginären Zahlen, die es in Wirklichkeit doch gar nicht gibt, nur mit Ausflüchten reagiert (eine einzigartige, die sich verbergen wollende Unwissenheit der Obrigkeit mit einem „Mein lieber Freund; du musst einfach glauben“ abtuende Szene), begibt er sich in eine Abwesenheit der Hoffnungslosigkeit, die angesichts seiner Unfähigkeit, dem der Klasse ausgelieferten Basini beistehen zu können, in eine wirkliche Flucht mündet. Denn alles, was er dem ihn um Hilfe bittenden Gequälten sagen konnte, war: „Es gibt eben eine schmutzige und eine saubere Welt. Es ist die gleiche, in der beides geschieht. Das ist die ganze Weisheit.“ 


Schlöndorffs Bilder dringen unterstützt von der nicht nur die Zuschauer der 60er Jahre verstörenden Musik Hans Werner Henzes tief in die Seele des Kadetten ein, die wie die karge Landschaft um den Bahnhof in der Einöde noch nicht vollendet ist. Sie lassen uns sein „Manchmal möchte ich am liebsten weglaufen“ als Reaktion auf die Unfähigkeit, die Welt mit ihren abstrakten Vorgängen zu deuten, verstehen, die Suche nach einer eigenen Position auch detailliert miterleben. Der begehrte Hals des Serviermädchens in der Schänke wird mit Törless‘ Augen aufgesogen, das interessierte Rollen einer Zigarette, die sich Beineberg genehmigt, träumerisch verfolgt. Wir erkennen Reitings puren Sadismus an seinem Spiel mit der Fliege, die er während einer langweiligen Unterrichtsstunde genussvoll zu Tode quält. Und diese ständigen Blicke, die sich die Schüler zuwerfen: Wie bist du? Wo stehst du? – So viele Kleinigkeiten weisen darauf hin, dass wir es mit mehr als einer Internatsgeschichte zu tun haben: Die drei kleinen Affen (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen!) im Büro des sich windenden Mathematiklehrers, die Pistole, mit der Beineberg Basini während seines „Hypnoseversuchs“ wie ein Nazi bedroht – aber auch Törless‘ „Flucht“ in sein Spiegelbild während der Quälereien, die das Publikum der 60er Jahre nicht nur aller Illusionen über die Donaumonarchie der „Sissi“-Filme beraubten, sondern äusserst schockierend gewirkt haben dürften (obwohl zum Beispiel die Einfachheit, mit der die Lynchszene gegen Ende inszeniert wurde, kaum zu überbieten ist). --- All diese Details weisen zusammen mit dem (gespielten?) Unverständnis des Lehrkörpers darauf hin, dass dieser Film auch die Vorgeschichte des Nationalsozialismus behandelt. Hinzu kommt dieser eigenartige Schluss, von dem man annehmen darf, er stehe für eine Weigerung, sich als erwachsen werdender Mensch der Realität zu stellen, zeige einen Törless, der es vorziehe, Geborgenheit in den Armen seiner Mutter zu suchen. - Nur ein paar britischen Filmen ("If....", 1968, "Another Country", 1984) gelang es, die brutalen Gepflogenheiten im geschlossenen System "Internat" ähnlich eindringlich darzustellen.


Über den Glücksgriff, der Schlöndorff mit dem jungen Mathieu Carrière gelang, ist oft geschrieben worden. Es kommt vielleicht alle Jubeljahre einmal vor, dass ein junger, recht unerfahrener Schauspieler eine derartige Glanzleistung bietet. Carrière lässt sich allerdings nur stellenweise mit dem träumerischen Törless in Musils Roman vergleichen (unter anderem in einer Szene, die ihn allein draussen herumirrend beim Gleiten in seine eigene Welt zeigt). Er tritt vielmehr als überheblich-intellektueller Schüler auf (vielleicht als Alter Ego des Regisseurs, der in Frankreich ein Jesuiten-Internat besucht hatte), was den Eindruck verstärkt, „Der junge Törless“ lehne sich zwar an die Vorlage an, sei jedoch - zum Teil wohl auch wegen der Unfähigkeit der Bilder, Erzähltes detailliert wiederzugeben - um eine eigenständige Interpretation bemüht, die die Dekadenz des frühen 20. Jahrhunderts konsequent zum Vorläufer der Unmenschlichkeit einer späteren Zeit mache. – Aber auch die anderen Rollen sind hervorragend besetzt. Ich möchte hier nur auf Barbara Steele hinweisen, die als Dorfhure Bozena einen kleinen Auftritt hat. Man könnte sie, Musils Text folgend, einfach als billige Schlampe darstellen. Schlöndorff verlieh ihr jedoch das, was sie zur „femme fatale“ und für die jungen Kadetten überhaupt erst verlockend machte. Offenbar steckt doch das in der Figur, was wir ihr in einem Seminar unserem Professor einst energisch absprachen, weil sie sich schlicht nicht in eine Reihe stellen lassen will mit den verführerischen "femmes fatales" der Jahrhundertwende, in Heinrich Manns "Professor Unrat" oder Thomas Manns "Der Zauberberg", der, die Androgynität solcher Figuren auf die Spitze treibend, mit Madame Chauchat die einzige Frau mit Penis (symbolisch!) in der damaligen Literatur präsentierte.


Obwohl ich noch immer auf einen Regisseur warte, der den Mut aufbringt, Rilkes „Malte Laurids Brigge“ (ein durchaus zeitgemässer Stoff!) wenigstens fragmentarisch zu verfilmen, muss Musils „Törless“ als die ideale Vorlage für einen Film betrachtet werden, der den Tod von Papas Kino in den 60ern erst zum internationalen Ereignis zu machen verstand. - Sein mehr als berechtigter Erfolg brachte den jungen Regisseur leider auf die Idee, er sei geradezu prädestiniert, schwierige literarische Stoffe auf brisante Weise für das Kino aufzubereiten. Diese gefährliche, an Hochmut grenzende Vorstellung sollte in einzelnen Fällen wirklich gute Literatur-Verfilmungen hervorbringen („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975), oft aber zeigen, dass auch Schlödorff Bescheidenheit angemessen gewesen wäre. Ich bin heute noch der Überzeugung, dass der zwar mit einem Auslands-Oscar prämierte „Die Blechtrommel“ (1979) höchstens bewies, wie gefährlich, ja desaströs es sein kann, wenn man sich an den Roman eines sprachlichen Virtuosen wagt. Die Verfilmung von „Die Fälschung“ (1981), einem Roman des jung verstorbenen Nicolas Born, wirkt ebenso unbeteiligt wie die Frisch-Adaption „Homo Faber“ (1991), schon als literarisches Werk ein trockenes Konstrukt, dessen Lektüre man Gymnasiasten nicht mehr zumuten sollte. Und der sowohl blasse als auch schwülstige Versuch, mit „Un amour de Swann“ (1984) sogar Marcel Proust zu verfilmen, lässt höchstens erkennen, dass Volker Schlöndorff ohne diese verbohrte Vorstellung, der Meister der verfilmten Literatur zu sein, nach seinem grandiosen „Törless“ noch eine weitaus beachtlichere Filmographie vorzuweisen hätte.